Text zu NAH DRAN extended: shifting views (10./11. Juni 2017) von Alexandra Hennig

 

 

Um diesen Text zu schreiben, habe ich es mit Perspektivwechseln versucht.
Ich springe. Ich leihe mir, wo ich nichts zu sagen weiß, eine andere Stimme. Ich werde persönlich, politisch, theoretisch ausschweifend und halbwissend. ‚Schaut euch um!‘ lautet die Ansage – shifting views. Ich komme gar nicht so leicht vom Fleck.

Es ist die zweite Ausgabe von NAH DRAN extended, die von der israelischen Tänzerin und Choreografin Lee Méir kuratiert worden ist. Nachdem NAH DRAN extended: re-dance tänzerische Rückblicke auf das Archiv vereinte – nun: shifting views. Der eigene Blick wird umgelenkt, die Perspektive verstellt(?) und manchmal erscheinen die Dinge dann auch in überdeutlicher Klarheit, so dass ich die Augen zusammenkneifen muss. Nasheeka Nedsreals Stück „Obscure Noir“ spiegelt hegemoniale Blickstrukturen und wirft sie auf das Publikum zurück – in your face.


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Die drei Arbeiten sind in ihren Anliegen so verschieden, dass schräge Zusammenhänge auftauchen oder zwischen ihnen ganze Leerstellen klaffen. Das hat zu einigermaßen produktiver Verwirrung (der Studioschreiberin) geführt. Die fragt sich nun halsbrecherisch, wie das überhaupt zusammengeht:
(1) Ausweitung der Gemeinschaft unter Integration unbelebter Objekte
(2) Schön ver-tanzte Entscheidungsfindung ohne Wogegen/Wofür
(3) Ungehörte/Unerhörte Stimmen


(1) „Solid Rock Interaction“. Spielerische, aber auf den ersten Blick harmlos wirkende „Kollisionen“ von Klangkörpern und Arm/Knie/Ellenbogen-Schützern auf Parkett. Ein Zusammenspiel von menschlicher Bewegung und Musik, Raum und Objekten, von dem ich aus dem Programmheft erfahre, dass dahinter ein weitreichender Gedanke steht: Das Konzept des „Neuen Materialismus“ wendet sich ab von der rein über Sprache behaupteten Konstruktion der Wirklichkeit, wie sie in vielen Geisteswissenschaften angenommen wird.

[verkürzter Exkurs with Tribute to Judith Butler: was wir sprachlich nicht fassen können, dessen Existenz ist zweifelhaft oder andersrum: unsere Körper sind diskursive Produkte, die über Wiederholungen von Sprechakten und niemals außerhalb der Macht von Sprache zu dem werden, was durch bereits existierende Normen erfüllt oder unterwandert wird / die Dinge sind nicht ohne diskursive, sprachliche Prägung denkbar].

Dem gegenüber steht die neue Hinwendung zu den materiellen Dingen an sich, die außerhalb des menschlichen Handelns / Sprechens existieren und in ihrer eigenen agency (Handlungsmacht) ernst genommen werden sollen. Weg vom Anthropozän, hin zu den uns umgebenden Dingen. Hat die eigentlich auch mal jemand gefragt? Neben den Performerinnen Miriam Siebenstädt (jean p’ark) und Manon Parent beteiligt noch: die Schützer, Metallkugeln, Steine, Metallplatten, with special thanks zum Raum (der sich seinen Auftritt nicht nehmen lässt…) und Zwoisy Mears-Clarke als Dramaturg.

Indem die Berührungen, Kollisionen und Aushandlungen eben nicht zwischen den beiden Performerinnen, sondern „jenseits zwischenmenschlicher ‚Kollisionen‘“ unter den Objekten stattfinden, bleibe ich seltsam unberührt. In guten Momenten lässt sich ihr Arrangement als installative Bravour genießen und sich daran erfreuen, dass die Kugeln so elegant über den Boden gleiten und daran, Klangfacetten der unterschiedlichen Materialien zu erfassen. Wenn die beiden Performerinnen zu Beginn in voller Schutzausrüstung auf der Bühne stehen, sich unbekümmert erheben und an den Bühnenrand treten, um mehrere große Teppiche aus funkelnder Silberfolie zu zerknüllen, geht etwas vor sich: das Knistern des Goldhaufens – ein poetischer Klangregen. Die zwei in ihrer Montur ein ironischer Kommentar zu Theater als Gefahrenzone: Helm auf und ab durch die Vierte Wand!?

Die Klang-Objekt-Konstellationen verlieren jedoch recht bald ihre Sensation und gerade, weil Parent und Siebenstädt sich in ihrem Ausdruck so sehr zurück nehmen, verhallen viele Zwischentöne. Entgegen (m)einer Erwartung wird den Dingen kein Leben eingehaucht – die Kollisionen scheinen auf abstrakter Ebene über der Wahrnehmung stattzufinden (siehe Exkurs). Darin stimmen – zu meiner Versöhnung – unvorhergesehene Momente mit ein, in dem die Trasse an der Decke des Studios laut und selbstdarstellerisch zu knacken einsetzt („Ich bin auch noch da!“) oder: jedes Knarzen der Stühle im Zuschauerraum an Bedeutung gewinnt. Spannender als das Gegenpaar menschlich/nicht-menschlich hier vielleicht die Frage nach den Motiven des Klang(körpers). Wer spricht – warum?


(3)
Die Afro-Amerikanische Lyrikerin Nayyirah Waheed, die vor allem über social media und instagram bekannt ist, schreibt neben vielen wunderbaren Gedichten in „salt“:

i am a black wave
in
a white sea.
always seen
and
unseen

the difference

Es kann nicht darum gehen, sich die ‚schwarze‘ Perspektive zu eigen machen zu wollen oder sich zu einer Geste des Verständnisses aufzuschwingen.
Ist es mir – als weiße Frau in Deutschland – überhaupt möglich, über Naseehka Nedsreals Arbeit „Obscure Noir“ zu schreiben? Gesucht wird ein freies Terrain außerhalb ‚weißer‘ Imagination, wobei unbeantwortet bleiben muss, wo es das geben kann. Kann ich die ‚weiße‘ Perspektive (jemals) ablegen, um deren Entkommen es hier geht? An wem ist es, das zu beurteilen? Um mich geht es ja schon mal gar nicht.

In der hinteren Ecke des Studios steht ein Spiegel, vertikal. Das Portrait eines ‚schwarzen‘ Mannes erscheint auf der Leinwand und er schaut uns geradeheraus an. (Spreche ich immer schon von einem geteilten ‚wir‘, wenn ich sage ‚uns‘?) Schon setzt meine Interpretationsmaschine ein: liegt Trauer in seinen Augen? Als zweites steht da eine Frau. Woran denkt sie? Sie sieht fröhlicher aus. Was lässt sich aus ihren Blicken heraus lesen?
Nasheeka Nedsreal hat bereits im vergangenen Oktober ein Solo bei „10 times 6” gezeigt, das mich in seiner Stärke und Klarheit beeindruckt hat: Text zu "10 times 6" 11/2016

Dieses Mal ist sie wieder angetreten zu einer kämpferischen Ansage, zu ‚schwarzem‘ Empowerment, aber es ist eine narrative Ebene hinzugekommen, die überdeutlich und zugleich nach außen hin abgeriegelt ist und ich werde das Gefühl nicht los, bei jedem Versuch, mich dazu zu positionieren, in eine neue Falle zu tappen.

Es geht um ein Wir. Die Stimmen der Menschen, die uns von der Leinwand anschauen, kommen vom Band. Sie sagen: „Wir sind ein Volk der Leidenden. Wir sind Kämpfer. Wir unterdrücken uns gegenseitig.“ Es geht um Angriffe in der U-Bahn, um Blicke, um Anpassungen „weiß handeln / weiß denken“ zu müssen.
Was das eigentlich bedeutet, kann mir wohl gar nicht klar werden, und das ist dann die andere Seite der Medaille. Zurück zu den ‚echten‘ Kollisionen.

Über ihren Tanz vermittelt sich Stärke, Anmut und Virtuosität, und gleichzeitig werden über ihre Bewegung und die Betonung ihres ‚schwarzen‘, sehr schlanken Körpers eben jene Bilder geweckt, deren Bewertung obskur – zweifelhaft – bleibt.
Nedsreal betritt als kämpferische, spinnen-gleiche(?) Gestalt die Bühne, steht breitbeinig frontal zu den Zuschauerreihen, ihre Fäuste auf den Boden gestemmt, wandern diese von einer Seite zur anderen, dann ruhen sie für einen Moment, ihr Körper neigt sich nach vorn, als wolle sie zum Sprint ansetzen. Sie verbirgt ihr Gesicht zwischen den Knien.

Eine junge Frauenstimme berichtet von Fetischisierungen des weiblichen ‚schwarzen‘ Körpers. Die Tänzerin hat (stellvertretend?) ihren Kapuzen-Pulli aufgezogen, sie hockt am hinteren Rand der Bühne, Katzenbuckel, Hohlkreuz, Katzenbuckel. Ihr Körper, der Übersexualisierung bewusst ausgeliefert. Sind das die Plateaus weißer Imagination? Nimmt sie über die Reproduktion davon Abstand, oder wirft sie (uns?) den Voyeurismus in hohen Bogen zurück?

An einer Stelle springt sie katzengleich(?) in die Luft, nach vorn, hebt mit voller Wucht vom Boden ab, kippt zur Seite. Sprung nach oben, liegen bleiben, Zunge rausstrecken.

Meine Lieblingsszene des Abends gegen Ende: Sie steht am Spiegel, betrachtet sich selbst darin und tanzt zu einem Remix aus schwarzer Club- und Jazz-Kultur
Die Männer und Frauen aus der Videoprojektion lächeln ihr zu, als Community, als Versöhnung. Der schwarze Körper als Ort des Festes, so endet diese Arbeit, stolz und in einem Wir. Auf der Bühne ein Stapel Bücher: “Swing Time” von Zadie Smith, neben Grada Kilomba „Plantation Memories“, „Black Skin, White Masks“ und anderen.


(2)
Ausgeglichen, schlicht und konzentriert steht das zweite Stück des Abends als Brücke zwischen großen politischen Fragen. Shai Faran und Aya Steigmann führen in einem sauber gearbeiteten Duett vor, wie sich tänzerische Entscheidungen verhandeln lassen – abwechselnd und mit/nebeneinander setzen sie ihren Tanz ein, während die andere am Rand erst regungslos steht, um den Moment abzupassen, mit einzusteigen. Schwer zu sagen, was sie wirklich im Moment verhandeln und in welchen Momenten sie einer Choreografie folgen, was sie voneinander aufnehmen und umwandeln. Impulse kommen immer wieder aus der Nackenregion, den Schultern, die Arme rotieren, Oberkörper abtauchen und Köpfe nach hinten werfen lassen. Vielleicht liegt es daran, dass die beiden sich seit ihrer Kindheit kennen: die ruhige, gelassene, vertraute Atmosphäre zwischen ihnen überträgt sich. Daneben verleitet ihr Tanz zum Dranbleiben, Abschweifen und Zufrieden-Sein. Will we ever make up our minds…? Werden wir uns jemals entscheiden? Entschieden haben sie sich dafür, den Gegenstand, das, worauf sich ein Dafür oder Dagegen richten würde, offen zu lassen. Darum bin ich auch ganz froh, dass dieses Stück in der Mitte steht.


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Noch ein Mal: shifting views: *während sich weiße Journalist*innen darüber entrüsten, dass in Inszenierungen das „N-Wort“ gestrichen wird (zum Beispiel hier: http://www.deutschlandfunkkultur.de/kunstfreiheit-oder-rassismus-das-n-wort-polarisiert-das.2159.de.html?dram%3Aarticle_id=387809), finde ich es eigentlich ziemlich okay, auch mal einfach nix zu sagen zu haben, sondern zuzuhören. Ungehörte/Unerhörte Stimmen werden laut, formieren sich zu einem Chor. Ich wünsche mir, dass sie immer wieder den Anstoß zu einer Frage geben.


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

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