Kasia Wolinska (Ins Deutsche übersetzt von Aïsha Mia Lethen):

 

 

HARDCORE INTERNET

Here I come

 

 

The winds are blowing every morning

Just to do her hair now

Because she cares you all

Her day oh wouldn't be right

Without her make up

She's never had a make up

La da dee la dee da

La da dee la dee da

La da dee la dee da

La da dee la dee da

La da dee la dee da

La da dee la dee da

                  - Crystal Waters, Gypsy Woman ( She’s Homeless), 1991.

 

Der Videostream des Hardcore Internet von und mit Julia Plawgo hatte am 30. April 2021 Premiere. Er war als offene Probe angelegt, zu der man virtuell reinkommen und ein 15-minütiges Video sehen konnte, das Julia Plawgos Residenz im ada Studio Berlin krönte.

Ich habe Julia Plawgo bei einer Audition vom HZT Berlin kennengelernt, an der sie (erfolgreich) teilnahm. Julia hat Polen verlassen, um sich dem Tanz zu widmen und sich dem anzuschließen, was einige Leute in Berlin die Polish Mafia nennen. Wir haben zusammengearbeitet und ich war Zuschauerin und begeisterte Unterstützerin ihrer choreografischen Arbeit(en), aber auch, wie bei Hardcore Internet, ihrer Videokunst.

Wir alle haben die Verschiebung einer verkörperten Erfahrung zu einem online Leben in den letzten eineinhalb Jahren erlebt und geteilt. Es scheint die größte Spannung und gleichzeitig ein Raum für Möglichkeiten zu sein, den Julia in den vier Wochen ihrer Residenz und auch schon vorher, erprobt – geprobt – hat. So z.B. in ihrer früheren Arbeit,

I wanted to show you the

world, but I only had 2GB

die sie 2019 im Rahmen von Introducing des Performing Arts Festival Berlin präsentierte.

Hardcore Internet ist eine choreografische Untersuchung des Anderen: Radikalen Realitäten, die von einem tanzenden Körper, der sowohl Online- als auch Offline-Räume bewohnt, werden vorgeschlagen. Ich stimme Julia zu, dass es die Möglichkeit und das Vergnügen! gibt, eine eigene Welt zu konstituieren und ein solches Projekt mit choreografischen Mitteln und einem Körper als sowohl irdisches als auch außerirdisches Vehikel zu entwerfen. Es wird in einem Raum getanzt, der für mich wie das ada Studio aussehen mag, für Julia aber eine völlig andere Realität annehmen könnte, die eben das Hardcore Internet Tanzen hervorbringt. Da ich mir nicht ganz sicher sein kann, was ihren Tanz antreibt, konzentriere ich mich darauf, Zeugin eines denkenden, tanzenden Körpers zu sein, der hier einen Raum für mich und andere entfaltet – durch den Bildschirm. Sie folgt den Regeln, die ich vielleicht projiziere, aber die Realität ist, wie schon erwähnt, ein unsicheres Territorium erst recht im digitalen Zeitalter.

Im Videostream überlagern sich die Portale und Perspektiven, tanzende Körper, die in einer Schleife pulsieren und ihre Form verändern, während unsere Augen von einer etwas düsteren Landschaft aus Plastikblumen und blinkenden Lichtern abgelenkt werden. Die Materialität des Studios als Arbeitsraum wird offenbart, wenn die Kamera den Kabeln folgt und uns auch die Ecken in ihrer völligen Glamourlosigkeit zeigt. Was ich für einen Berg aus Plastikfolie halte, verschmilzt mit dem Tanzboden und lässt das Unmögliche wachsen. Ein Körper wird sich schließlich in die dunkle Landschaft einfügen, aber vorher wird er Räume und Wege abgrenzen, er wird sich verwandeln und verbiegen, um das Auge der Betrachter*innen zu verwirren, während er den sich wiederholenden Rhythmus und die springenden Qualitäten beibehält. Kreaturen und Formen entstehen aus den Mustern der Bewegung und des Tanzes und erlauben es dem Körper, sowohl geometrische Form und räumliche Dynamik zu kreieren, als auch sich in eine langsam fortschreitende Materie unbestimmten (fremden?) Ursprungs aufzulösen. Die Arme der Tänzerin im Raum können die Realitäten durchschneiden und hindurch schwingen, sie können im Rumpf verschwinden, an den Oberschenkeln oder am Boden hängen bleiben. Die Möglichkeit zum Spiel ist grenzenlos in Hardcore Internet und doch ist es ein Beharren und Wiederkehren von Formen und Bewegungen, die den Raum definieren, die Form und Logik geben. Alle Bewegungsvariationen und körperlichen Abgrenzungen wurzeln im einfachen Akt des Gehens, des Quer- und Durchbewegens, während sie an Raves und Videospiele erinnern.

Bemerkenswert ist nicht nur die Präzision und hohe Qualität des Bewegungsvorschlags, sondern auch die Art und Weise, wie der Arbeitsprozess und das aufgenommene Material zu dem Video Hardcore Internet komponiert wurde. Mit einer sauberen und gut kuratierten Verschränkung von Sound, Bewegung und objektbasierter Installation artikuliert sein choreografischer Rahmen für mich einen bestimmten Zustand des Körpers, der im digitalen Zeitalter lebt, und er verweist nicht nur auf die Verspieltheit des Tanzes, sondern auf das unwiderrufliche Potenzial und die Macht eines Körpers, der sich bewegt und Wissen generiert, das sich letztlich der körperlosen Zukunft der Online-Existenz widersetzt.

 

And you know
I'm outta love
Set me free
(Set me free, yeah)
And let me out this misery
(Oh, let me out this misery)
Show me the way to live my life again You can't handle me

(Said) I'm outta love
(I'm outta love) Can't you see Baby, that you gotta set me free

                   - Anastacia, I’m outta love, 2000.

 

In ihrer Biografie schlägt Julia Plawgo Tanz und Choreografie als Überlebensstrategie vor, und ich möchte sie auch als einen Versuch sehen, eine digitale Abwesenheit mit einem Körper zu überschreiben, der sich aus der Erfahrung einer Generation heraus bewegt, die geboren wurde im Internet zu leben. So sehr sich das Tanzen durch Apps, Virals und Youtubes auch verbreitet hat, der tatsächliche Zustand des tanzenden Körpers und der Status des lebendigen Körpers selbst haben sich unter dem digital erweiterten Kapitalismus verschlechtert.

Millennial-Choreograf*innen haben eine unangenehme Aufgabe zu bewältigen. Nicht nur werden Innovation, Verbindung und Vermittlung vom zeitgenössischen Kunstmarkt mit seinen kuratorischen Themen, der Planung von Zugänglichkeit und der obligatorischen Coolness der Anträge aufgegriffen, auch der Wettbewerb und der tatsächliche Status des Kunstmachens (das sich zunehmend in eine Luxusware verwandelt als in eine soziale, kommunikative, nonkonformistische Beschäftigung) hat die Praxis des Tanzes verändert. Hier kommt eine weitere generationenübergreifende Frage ins Spiel, denn viele Entscheidungsträger*innen - sprich Geld- und Sichtbarkeitsverteiler*innen - scheinen blind zu sein für die Probleme von Nachwuchskünstler*innen, die ihre Karrieren nie so starten können wie ihre Lehrer*innen es noch konnten. Julia Plawgo ist eine Künstlerin, die vom Berliner Fördersystem weitgehend übersehen wird – und ehrlich gesagt, ist sie leider eine von Vielen. Nach ihrem Abschluss am HZT Berlin hat sie für und mit Ania Nowak, Ola Maciejewska, Cecile Bally, Deufert und Plischke, Rosalind Crisp und Frederic Gies gearbeitet, jedoch immer Schwierigkeiten gehabt, Stipendien für ihre eigenen choreografischen Arbeiten zu bekommen. Natürlich weiß ich es auch aus meiner eigenen Erfahrung als immigrierte Tänzerin und Choreografin in der deutschen Hauptstadt: Der Weg zum sogenannten Erfolg und dem mythischen "Aufstieg" als Künstlerin ist lang und kurvenreich, führt für viele nicht ins Schlaraffenland, sondern zu der bitteren Erkenntnis, dass Kunstmachen nur für wenige profitabel ist. Und Rentabilität ist nur einer der Aspekte, denn niemand wird Tänzer*in, in dem Glauben, ein Vermögen zu verdienen. Aber wenn selbst die bescheidenen Erwartungen, eine künstlerische Praxis aufrechtzuerhalten, Räume zum Arbeiten zu haben und dafür bezahlt zu werden, zu Luxus und Privileg werden, dann müssen wir über das Problem im System sprechen und das kann nicht von den Künstler*innen selbst, sondern nur in der konzertierten reformatorischen Anstrengung aller Akteur*innen der Szene gelöst werden.

Das Pilotprojekt Residenzförderung 2020/21 wurde im Juni 2020 gestartet und läuft bis Dezember 2021. Das Programm wurde als Folge des Runden Tisches Tanz Berlin im Jahr 2018 ins Leben gerufen und soll die dezentrale freie Tanzszene Berlins stärken. Es ermöglichte 9 Institutionen, ihre Residenzprogramme explizit für Berliner Künstler*innen zu entwickeln. Zu den geförderten Räumen gehören u.a. das ada Studio, das Radialsystem, die Tanzfabrik und die Lake Studios, die jeweils eigene Rahmungen und Bedingungen für den Residenz- und Auswahlprozess vorschlagen konnten. Wie mir Gabi Beier, Kuratorin des ada Studios und engagierte Kulturaktivistin in der Berliner Tanzszene, erzählte, lehnte sie die Themen-Orientierung von Residenzen ab, um die Auswahl offen gestalten zu können und auf ein einfaches Kriterium zu stützen – aufstrebende Künstler*innen, die Förderung benötigen. Dieser Minimalanspruch ist bezeichnend dafür, dass das ada Studio einer der egalitärsten Räume für Tanzforschung und -präsentation in Berlin ist. Viele Newcomer*innen und Etablierte haben ihre Arbeiten im ada Studio gezeigt und die Politik des Ortes hat sich immer an den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen der Szene orientiert und nicht an Ästhetiken und Diskursen, die von der Spitze der Kulturproduktion auf den Grund der künstlerischen Arbeit projiziert werden.

Jede*r einzelne Künstler*in und jede Gruppe, die zu einer Residenz ins ada Studio geladen wird, erhält 2000 Euro Honorar und einige hundert Euro Produktionsgeld, die z.B. eine szenografische Gestaltung oder dramaturgische Beratung ermöglichen. Für den Zeitraum von vier Wochen werden sie eingeladen, ihre Forschungsmethoden zu untersuchen und den Prozess für das Publikum und andere Teilnehmer*innen zu öffnen. Die zugrundeliegende Intention hinter dem kuratorischen Rahmen von 'reinkommen on screen' ist es, Künstler*innen Unterstützung zu bieten, die Arbeiten von hoher künstlerischer und konzeptioneller Qualität produzieren, aber in der Szene nicht genügend Sichtbarkeit erhalten oder darum kämpfen, in die Produktionspläne aufgenommen zu werden.

Ich hoffe, hier nicht zu viel zu verraten, wenn ich Gabi Beiers Aussage wiederhole, dass Julia Plawgo die herausragendste Bewerbung für das Residenzprogramm eingereicht hat und es für Gabi und mich ein Wunder ist, dass sie in der Stadt, die sie als Tänzerin und Choreografin ausgebildet hat, keine regelmäßige Förderung findet. Dieser Fall beweist wieder nur die dringende Notwendigkeit eines weiteren strukturellen Auf- und Ausbaus der freien Tanzszene in Berlin, um dem Talent und Potenzial der hier lebenden und arbeitenden Künstler*innen gerecht zu werden. Zusammen mit Tanzpraxis zielt das Residenzprogramm auf die direkte Förderung der in Berlin ansässigen Künstler*innen und sollte als solches eine grundlegende Struktur für die Entwicklung der Berliner Tanzszene in ihrer dezentralen, nicht-kommerziellen, praxisbezogenen Ausrichtung werden. Ich möchte an Künstler*innen, Kulturschaffende, Politiker*innen und das Publikum appellieren, die Bedeutung des Runden Tisches Tanz Berlin nicht zu unterschätzen und sich weiterhin für seine Programme einzusetzen, da sie ein Versprechen für eine gerechtere, nachhaltigere und vielfältigere Tanzszene in der Stadt beinhalten.

 

P.S. Sie können Hardcore Internet im November 2021 als Teil von "NAH DRAN extended: MISSED PIECES" live im ada Studio Berlin sehen.


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

ada Studio für zeitgenössischen Tanz

in den Uferstudios/Studio 7

Uferstraße 23

13357 Berlin

T: +49 (0) 30-218 00 507

E: ada-berlin [AT] gmx.de

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