Text zu „neworks“ (17./18. März 2023) von Adèle Aïssi-Guyonins Deutsche übersetzt von Auro Orso

 

 

Da ich nicht in Berlin war, habe ich mir das Video von "Ghosts are my reality", einem Stück von Theresa Maria Forthaus, Maria Focaraccio und Katharina Scheidtmann angesehen, wobei die beiden Letzteren auf der Bühne standen. Es war eine interessante Erfahrung, das Stück online, auf meinem Bildschirm, zu sehen. Obwohl ich das normalerweise nicht gerne tue und ich mir wünschte, ich hätte in die intime, verträumte Atmosphäre eintauchen können, die das Stück geschaffen hat, fand ich es interessant zu sehen, wie all die Schichten der Aufführung zusammenkamen. In dem Stück sind Tanz, Stimme und Videoprojektion miteinander verwoben, und es hatte etwas Verstörendes (auf eine gute Art und Weise), all diese Elemente

gleichberechtigt auf meinem Bildschirm zu sehen. In gewisser Weise konnte ich so auch an diesem Zwischending von räumlicher und zeitlicher An- und Abwesenheit, von hier und dort, jetzt und damals teilnehmen.

 

Im Laufe der Aufführung kreieren die beiden Tanzenden verschiedene Sequenzen im Dialog miteinander und mit Bildprojektionen, Klängen und Musik sowie Stimmen, die Geschichten auf Deutsch, Englisch und Italienisch erzählen. Diese verschiedenen Sequenzen entwickeln sich, indem sie ähnliche Qualitäten, Bewegungsvokabular, Anfangselemente und Raumkonstellationen  wieder aufgreifen, wie ephemere und doch nie endende Szenen, die miteinander verbunden sind und bei denen es schwierig scheint, eine eindeutige Bedeutung oder ein Thema zu erfassen. Diese Mehrdeutigkeit scheint es zu sein, die es der Performance ermöglicht, uns in dieses Universum der Träume und Geister zu entführen - wie der Titel andeutet, der sich auf den Song "Dreams are my reality" bezieht.

 

Der Beginn der Aufführung schafft eine Mise en abyme, die uns direkt in das Reich der Träume eintauchen lässt: eine Stimme beschreibt den Schauplatz in der Vergangenheitsform, wie man es beim Erzählen eines Traums tun würde ("Es war ein Abend im März", "sie saßen alle nebeneinander"). Der Raum der Aufführung verwandelt sich direkt in einen Ort, der neue  Möglichkeiten eröffnet, an dem sich Realität und Vorstellung verschieben können. Diese Umkehrung von Raum und Zeit wird noch verstärkt durch die aufeinanderfolgenden Erzählungen, die während des gesamten Stücks auftauchen und die Szenen im Präsens beschreiben: Sie suggerieren, dass das, was hier und jetzt ist, vielleicht nicht so greifbar ist, wie wir denken, und

dass im Gegenteil Erinnerungen, Träume oder Fantasien hervorgerufen werden können und sich als real und gegenwärtig offenbaren. Die immer wiederkehrenden Kreisbewegungen im Raum und in einigen Bewegungen tragen ebenso wie die blauen Kostüme zu dieser träumerischen Atmosphäre bei. Die wellenartige Musik, Vogelgeräusche und einige Bilder tragen ebenfalls dazu bei.

 

Die Körper der beiden Performenden interagieren, um Konstellationen und Figuren zu schaffen: Sie berühren sich, lehnen sich an, tragen sich, probieren das Haar der anderen Person wie eine Perücke. Auch ihre Schatten verschmelzen an der Wand und schaffen die Silhouette eines magischen Wesens. Das gemeinsame Bewegungsmaterial wird verzögert, reaktiviert, manchmal

fast mimisch, manchmal sehr abstrakt. Der Tanz wechselt zwischen sanften und emotionalen oder verspielteren, absurden Bildern, manchmal auch zwischen beidem: Sie "tragen" die Haare der anderen Person oder bewegen den Kopf als Reaktion auf eine unsichtbare Fliege oder unsichtbare Auslöser, fangen gemeinsam an zu lachen, tanzen miteinander oder getrennt, manipulieren sich gegenseitig.

 

Die Bilder aus dem Beamer schaffen eine weitere Ebene. Manchmal nehmen sie den ganzen Raum ein und beschwören andere Orte herauf: Baumblätter, Hände im Sand, ein Notizbuch, eine Straße... Manchmal reagieren sie auf die beiden Körper auf der Bühne oder interagieren mit ihnen, besonders wenn die Bilder der beiden Tanzenden projiziert werden und eine doppelte Präsenz entsteht.

 

Die Stimmen erzählen gemischte Geschichten in drei Sprachen, mit wiederkehrenden Sätzen, die nicht immer von einer Sprache in die andere passen (ein Satz in einer Sprache übersetzt nicht unbedingt das, was gerade in einer anderen Sprache gesagt wurde, und führt es auch nicht fort). Zu dieser surrealistischen Erzählung kommt hinzu, dass einige Stimmen auch umgekehrt sind. Manchmal spricht die Stimme zu einem geheimnisvollen "Du" - einer performenden Person? Dem Publikum? Jemand anderes?

 

Alle diese Elemente tragen zu dieser Verwirrung zwischen Realität und Fiktion, dem Greifbaren und dem Unsichtbaren bei. In gewisser Weise scheinen alle Bilder auf gleicher Ebene wertvoll zu sein: das von den beiden Performenden erzeugte Bild, das vom Beamer oder dem Schatten projizierte, das durch die suggestiven Bewegungen oder die Musik und Geräusche entstandene Bild in der Imagination.

 

Gegen Ende erscheint etwas, das ich als Alptraum gelesen habe: beunruhigende Geräusche und schnelle Bilder in Schwarz-Weiß. Dann rotes Licht mit zwei Körpern, die laut atmen und zittern. Die Szene endet abrupt.

 

Dann blicken sich die beiden Tanzenden an, als würden sie ihre gegenseitige Präsenz entdecken, und beginnen zu lachen. Es scheint, dass alles, was kommt, auch wieder geht, dass nichts zu schwer sein kann in dieser ständigen Bewegung der Dinge und Bilder. Auch dieser Moment des Lachens hört plötzlich auf. Von da an habe ich das Gefühl, alles wird zur Referenz, wie ein Blick auf die Erinnerungen, die zu uns zurückkehren. Das berühmte Lied "Dreams are my reality" wird eine Zeit lang gespielt. Die beiden Performenden spielen einige der Bewegungen von vorher nach, aber sehr langsam. Sie stellen nahezu statische Bilder nach, und sie bewegen sich immer schneller von einem Bild zum anderen, als ob sie den Prozess reproduzieren würden, der ein Bild in einen Film verwandelt, eine Pose zu einer Bewegung werden lässt und Erinnerungsfunken von den Szenen oder Träumen erzeugt, die wir soeben erlebt haben.

 

Am Ende sagt eine Stimme den gleichen Satz wie am Anfang: "Sie stellten sich alle die gleiche Frage", aber der zweite Teil des Satzes ("Was kommt als nächstes?") wird nicht wiederholt. Der ultimative " Kreis " der Aufführung ist fast geschlossen, die Aussetzung des Satzes schafft einen Raum für eine Fortsetzung. Das Stück endet und bleibt gleichzeitig offen. Es zeichnet das Ende des Kreises, schließt ihn aber nicht. Der zweite Teil des Satzes ist abwesend und doch präsent (als Erinnerung und Erwartung). Und die Frage ("was kommt als nächstes?") bleibt in der Luft, wie ein Gespenst, ein sehr reales Gespenst.

 

Nach einem Moment der Dunkelheit und Stille geht das Licht an, nach einer 40 Minuten langen Vorstellung oder einem langen Traum.

 

 

As I was away from Berlin, I watched the streamed video of «Ghosts are my reality», a piece by Theresa Maria Forthaus, Maria Focaraccio and Katharina Scheidtmann, and with the two latter on stage. It was an interesting experience to watch the piece online, on my screen. Although I normally don’t enjoy doing it, and I wished I could have dived into the intimate, dreamy atmosphere the piece created, I found it interesting to watch all the layers of the performance coming together. Indeed, the work intertwines dance, voice and video projection, and there was something disturbing (in a good way) about seeing all of them leveled and equal on my screen. In a way, it could also participate in this inbetweenness of spatial and temporal presence and absence, here and there, now and then.

 

Throughout the performance, the two dancers create different sequences in dialogue with each other and with images projected, sounds and music, and voices telling stories in German, English and Italian. These different sequences develop while reentering similar qualities, movement vocabulary, commen elements, space constellations, like ephemeral and yet never-ending scenes, that are interconnected and where it seems difficult to grasp a unequivocal meaning or topic. This ambiguity seems to be what enables the performance to take us to this universe of dreams and ghosts – as the title suggests, which refers to the song «Dreams are my reality».

 

The beginning of the performance creates a mise en abyme that directly makes us dive into the realm of dreams: a voice describes the setting in the past tense, as one would do telling a dream («It was an evening in March», «they were all sitting side by side»). The space of the performance directly turns into a place that opens new possibilities, where reality and imagination can be shifted. This inversion of space and time becomes even stronger with the successive narrations that appear throughout the piece and that describe scenes in the present tense: thus, they suggest what is here and now may not be as tangible as we think, and that in the contrary, memories, dreams or fantasies can be invoked and reveal themselves as real and present. The recurrent circularity in the space and in some movements, as much as the blue costumes, participate in this dreamy atmosphere. The wavy music, sounds of birds and some images as well.

 

The bodies of the two performers interact to create constellations and figures: touching, leaning on, carrying, trying out each other’s hair like a wig. Their shadows are also merging on the wall, creating the silhouette of a magical creature. The common movement material gets delayed, reactivated, sometimes almost miming, sometimes very abstract. The dance shifts between soft and emotional, or more playful, absurd images, sometimes both: «wearing» each other’s hair, or moving the head as reacting to an invisible fly or invisible triggers, starting to laugh together, doing a couple dance with each other or apart, manipulating each other.

 

The images from the beamer create another layer. Sometimes, they take the whole space, and evoke other spaces: tree leaves, hands in the sand, a notebook, a road... Sometimes they are responding to or interacting with the two bodies on stage, especially when the images of the two dancers are projected and a double presence is created.

 

The voices tell mixed stories in three languages, with recurring sentences that don’t always fit from a language to another (one sentence in one language does not necessarily translate nor continue what has just been said in another language). Adding up to this surrealist narration, some voices are also reversed. The voice is sometimes talking to a mysterious «you» - one of the performers? The audience? Someone else?

 

All of these elements participate in this confusion between reality and fiction, the tangible and the invisible. Somehow, all images seem to be valuable at the same level: the one produced by the two performers, the ones projected by the beamer or the shadow, the ones that arise in the imagination through the suggestive movements or the music and sounds.

 

Towards the end, something appears that I read as a nightmare: disturbing noises and fast images in black and white. Then, red light with the two bodies breathing loudly and shaking. The scene stops suddenlys.

 

Then, the two dancers look at each other, like discovering their mutual presence and start to laugh. It seems that everything that comes also goes, that nothing can be too heavy in this constant movement of things and images. This moment of laughter also stops suddenly. From then on, I feel like everything becomes referential, like glimpses of memories coming back to us. The famous song «Dreams are my reality» is played for some time. The two performers reenact some of the movements from before, but very slowly, recreating almost fixed images, and they move faster and faster from an image to another, like reproducing the process that changes an image into a movie, a pose into a movement, and creating sparks of memories from the scenes or dreams we have just witnessed.

 

In the end, a voice says the same sentence that had been said in the very beginning: «they were all asking themselves the same question», but the second part of the sentence («What comes next?») is not repeated. The ultimate «circle» of the performance is made almost complete, the suspension of the sentence creating a space for a continuation. The piece ends while remaining open. It draws the end of the circle but does not close it. The second part of the sentence is absent and yet present (as a memory and an expectation). And the question («what comes next?») stays in the air, like a ghost, a very real ghost.

 

After a moment of darkness and silence, the lights go on after what has been a 40-min long performance, or a long dream.


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

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