Text zu NAH DRAN extended: landscaping (23./24. Juni 2018) von Alexandra Hennig und Johanna Withelm

 

 

#Intro: Tanzende Landschaften: Eintauchen, Abdriften, weiter Schreiben. Die vorliegenden Texte sind in geteilter Autorinnenschaft von Johanna Withelm und Alexandra Hennig entstanden. Diese von Lee Méir kuratierte Ausgabe NAH DRAN-extended stand unter dem thematischen Schwerpunkt „landscaping“. Körper in Wechselwirkungen mit Natur: hineingefallen, verloren-gegangen, von der Sonne geküsst, auf höchsten Höhen.

Für die folgenden Text-Landschaften haben wir uns gemeinsam auf die Reise gemacht – eine Schreiberin wirft den Kompass aus, die andere folgt ihren Pfaden, lenkt ab, schlägt Richtungswechsel ein. Kursiv gekennzeichnet sind die Einschübe der anderen im Text der einen.
Wir wünschen: gute Aussichten!



Johanna Ackva & Philipp Enders: Salt Lake

Zwei Performer*innen (Johanna Ackva & Philipp Enders) sind in eine unbestimmte Landschaft hinein – oder aus einer ihnen vertrauten Umgebung hinaus gefallen. Sie befinden sich dort – auf dieser anderen Welt – in Zeitlupe.

Ihre Körper liegen wie hingeworfen, zwei Steine neben ihnen, wir befinden uns in der Wüste Nevadas, es ist heiß und trocken.
Irgendwann setzen sie sich in Bewegung, stark verlangsamt. Sorgfältige Drehungen über die Seiten, bis der Oberkörper vertikal nach oben zeigt, schon kurz darauf werden sie zum Boden zurückgeworfen, um sich wieder nach oben zu schieben...

Dann richten sich beide langsam mit verdrehten Körperachsen auf in den Stand, eine Hand auf die Schläfe gelegt, die das Auge bedeckt, um sich behände umzuschauen. Ihre Blicke wandern durch die Zuschauer*innen-Reihen: Was bleibt noch zu tun? Zu sagen? Verlorene Körper, besorgte Gesichter. Langsam drehen sie sich um sich selbst, drehen sich synchron in eine Spirale, die Beine verknoten sich sehr bedacht.

In wackligen Standwagen (ein Vogel!) zittern sie um ihren Platz in dieser Welt. Nach und nach wird klar, dass sie sich wohl verlaufen haben und der Einzug der Sprache weckt (uns alle?) aus einem meditativen Taumel, der sich zuvor dem Unbekannten hingegeben hat. „Have we seen a bird in the sky?“ und auf einmal wird dieser Raum doch noch narrativ / konkret.
Dieser Bruch in Form der verbalen Sprache hat mich tatsächlich unsanft aus meiner Betrachtung geweckt, schade denke ich, zumal die Bewegungssprache der Beiden schon so viel erzählt.

Eine Wüstenlandschaft, einsam von den beiden und den zwei Steinen als Weggefährt*innen abgesehen, die sie am Schluss imaginär gegen (den fliehenden Vogel?) den fernen Wolken entgegen werfen. Fata-Morgana? Dieser erste Arbeitsstand von Enders und Ackva könnte zu einer echten Abenteuer-Reise werden, in dem das Verloren-Sein, die undurchdringbare Landschaft, das Bezugssystem zweier Körper noch weiter in Richtung der imaginären Wüstenlandschaft exploriert werden könnte. Es wäre wünschenswert zu verfolgen, wohin „Salt Lake“ in einem größeren Umfang (etwa als abendfüllendes Bühnenstück) noch führen könnte.


Emily Ranford: Interlude

Emily Ranford hat mich von Anfang an irgendwie betört. Stilsicher betritt sie den Raum – mit Batik-T-shirt, blonden Haaren zu Fischgrätenzöpfen geflochten, Skinny-Jeans und goldenen Sneakers wirkt sie vom ersten Moment an wie ein Surfermädchen, von der Sonne geküsst. Wo befindet sie sich? Sie wirkt in dieser hoch stilisierten Erscheinung fast wie eine virtuelle Figur – aus einer App gefallen. Entrückt und unwirklich.
Sie sitzt auf dem Boden, die Beine von sich gestreckt, und beginnt langsam den Oberkörper in Wellen auf- und abzurollen. Zuerst sachte, dann immer dynamischer und durch Atmung unterstützt, schleudert sie ihren Oberkörper in die Luft und lässt ihn sanft in den Boden zurücksinken. Ganz klar, wir befinden uns hier am Strand, vielleicht in Kalifornien, oder am pazifischen Ozean in Australien oder Neuseeland (oder in einem Fernsehbild?), im Surferparadies, gleiten auf den Wellen und die Sonne scheint (hier immer).
Augenfällig finde ich, dass sie die einzige war, die die Landschaft „nur“ mit und durch ihren Körper (ihr Outfit, ihre Erscheinung) erzeugt hat. Die Wellen, das Meer, die Sonne waren bei ihr und mit ihr, sie hat die Szenerie eher verkörpert, als aufgemacht.

Und doch: Die Musik (tranciger Beat) unterstützt diese Landschaft, Emily Ranford umfasst mit beiden Händen ihre Füße und schaukelt auf dem Boden in Embryo-Haltung auf und ab, läuft langsam mit ihren dünnen langen Beinen spinnenartig auf allen Vieren, begibt sich in den Yoga-Hund, der Wind pfeift, das Surfermädchen wird zwischenzeitlich fast zur Meerjungfrau.
Plötzlich wechselt der Beat, es wird lauter und clubbiger, die Landschaft ändert sich von Surfwelt zu Open-Air-Festival bei Sonnenuntergang, der Raum wird zur Spielwiese, Emily Ranford bewegt sich schneller, lässt Impulse ihren Körper durchfahren, jetzt wird auch der erfahrene Tänzerkörper, die zeitgenössische Technik sichtbar. Hier kündigt sich für mich zum ersten Mal ein Bruch mit dem zuvor etwas zu perfekten Bild an.

Zum Schluss erklingen verzerrte Fragmente von „Slow“ (Kylie Minogue, natürlich), Emily Ranford lässt ihren Kopf in den Nacken sinken, sackt in Richtung Boden, der Körper driftet weg. Slow down and dance with me... yeah... slow...


Judith Förster: „THE TIME IT TAKES TO MELT (MY HEART)

Wir sehen drei Performer*innen, die in eine obskure Landschaft hinein gekippt sind – ihre Körper landen dort zunächst in Schräglagen: seitlich an die Wänden gelehnt, mit verdrehten Gelenken, abwesenden Gesichtern. Ihre abwechselnd gestreckten Arme und Beine bilden Senkrechte, zeigen nach oben und in den Raum wie Richtungspfeiler. Sie tragen knallige T-Shirts im Stil der 90er Jahre, kurze Jeansshorts und schwarze Turnschuhe eine aus dem Takt geratene Bergsteigertruppe. Wenn wir uns heute Abend zu Beginn in der Wüste Nevadas und anschließend am australischen Strand befanden, landen wir nun in der sibirischen Tundra.

Akustisch gesellt sich ein Dröhnen, Rauschen zur Atmosphäre hinzu. Ein Musiker (Pedro Ferreira) ist am vorderen Rand der Bühne platziert, diffuse Töne gehen von seinem Computer und – was den Blick auf sich zieht – von einem Eisklotz aus, aus dem ein Kabel ragt und den er mit verschiedenen Instrumenten bearbeitet. Ein multifunktionales Soundsystem: Echokanäle, Loops, elektronische Klänge.
Sehr zentral in der Mitte des Raums hängt eine graue rechteckige Folie an zwei seidenen Fäden, ein Flair von Fine Art liegt in der Luft – oder sind wir in einem Computerspiel gelandet?

Unterdessen kämpfen sich die drei Performer*innen Olivia McGregor, Judith Förster und Kike Garcia durch das Territorium. Einmal aus den Schräglagen aufgerichtet, bahnen sie sich ihren Weg wie Bergsteiger*innen – mit hochgerissenen Armen, in Schraubbewegungen…. Sie behaupten ihre Plätze, das Hineingeworfensein, auf Zehenspitzen oder mit vorgebeugten Oberkörpern. Sie bleiben dabei in jedem Moment selbstsicher und cool, kein Moment des Zögerns, der Zerbrechlichkeit, der Unsicherheit. Eine abgeschlossene Gruppe, die sich selbst genug ist.

Hier ist jede*r für sich allein und gleichzeitig zusammen, wenn sie ihre Arme wie ein Blasebalg immer wieder nach unten werfen, um ihre Körper anschließend gegen etwas (aber was?) aufbäumen zu lassen. Gewitter im Computergame? Die Landschaft, die hier behauptet wird, changiert zwischen heraufbeschworenen Unwetterkatastrophen und virtuellen Sehnsuchts-Orten. Sie scheint zwischen der organischen und technischen Welt zu liegen oder beide ineinander zu vereinen.

Etwas sägt sich in ihre Körper, etwas wabert. Wohin sind sie gelangt? Alle Drei halten einander fest – ihre Gliedmaßen suchen Halt und fliehen gleichzeitig in verschiedene Richtungen, wenn sie sich als Gebilde aus Körpern aufgestellt haben, einen Dreierkörper bilden. Die Arme zeigen den Weg vom Dreierzentrum in die Peripherie, ins Weltall – ein schönes Bild.

Am Ende bleibt ein Bild – und ein Komplott?: das leuchtende Rechteck, das bisher (unbemerkt) über der Szenerie thronte, wird zum eigentlichen Star der Szene. Die drei Performer*innen scheinen einen Ausweg aus dem „Draußen“ gefunden zu haben. Sie nehmen Kontakt zu den Zuschauer*innen auf, die (hier liegt das Komplott) wie selbstverständlich ihre Handys in Taschenlampenfunktion zücken, um das Rechteck anzuleuchten.
Diejenigen, die nicht eingeweiht waren, verstehen nicht, was vor sich geht. Warum zücken einige Zuschauer*innen ihr Handy und leuchten damit? Jemand neben mir sagt mir, ich solle das Handy auf das Rechteck halten und könne sehen, wie es leuchtet. Achso.
So steht am Schluss der verschmelzenden Welten (oder: the time it took to melt) eine Sinnestäuschung, alarmierend und verführend: Das Leuchten.

 


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