Text zu 10 times 6 (14./15. April 2018) von Alexandra Hennig und Johanna Withelm

 

 

INTRO#
„10 times 6” versetzt die Studioschreiberinnen bekannter Maßen in einen Strudel der Eindrücke, Gefühle und Wertungen. Das kurzweilige, abwechslungsreiche Format hält wie immer Ausschläge und Überraschungen in alle Richtungen bereit (zwischen „wow“ und „weh“). Passend zum Rush des Abends entstehen die folgenden Texte aus einem spontanen Assoziations-Rausch: jede Studioschreiberin versorgt die Andere mit drei subjektiven Stichpunkten/Gedanken zum Gesehenen. Die Andere steht vor der Herausforderung, diese drei Zeilen in ihrem eigenen Text mit einzubauen.

Die Assoziationen der Anderen dienen als Aufhänger, die eigene Erinnerung ein wenig auseinander zu schrauben, ihr Richtungswechsel zu verleihen oder den eigenen Eindruck noch zu verstärken.

Also: 2 mal 5 Texte a 3 einzubauende Assoziationen. Los geht‘s.


Maria Novella Tattanelli: Grab
Kampf
energisch-bestimmt
bäuerlich
Maria Novella Tattanelli hat sich an den eigenen Haaren gepackt. Eine Hand an ihrem bäuerlichen (?!) Zopf eröffnet sie einen choreografierten, teils lyrischen, teils schroffen Kampf mit sich selbst. Energisch-bestimmt wirbelt sie durch den Raum, ihr Körper erzeugt Rotationen, die sich beständig zu erschöpfen, in einen Stillstand zu münden drohen. Die Kreisbewegungen, das Abdriften, Umkippen, Innehalten scheinen innere Konflikte nachzuzeichnen, Unmöglichkeit und Hoffnung, aus Strukturen und Gewohnheiten auszubrechen. „Grab“ heißt der vieldeutige Titel dieses Solos, das nach eigenen Angaben Perspektiven für neue Anfänge sucht. Kann man sich selbst mit den Haaren aus dem ‚Grab‘ ziehen?


Julia Gladstone mit Xenia Taniko: Thumb
Elefanten-Parade
Menschen-Pyramide
Marionetten
Eine Menschen-Pyramide, bestehend aus zwei Frauen, betritt umständlich den Raum: die Eine (Xenia Taniko) umschlingt die Andere (Julia Gladstone) mit Armen und Beinen, saugt sich unelegant mit ihrem Mund an deren Stirn fest. Es folgt eine Aneinanderreihung von animalisch anmutenden Doppelfiguren: Spinnen- und affenartige Wesen gebaut aus zwei Körpern blitzen auf, eine seltsame Elefantenparade erscheint, wenn Julia Gladstone auf Xenia Tanikos Schultern sitzt, und diese sich träge stampfend auf allen Vieren fortbewegt. Die Gesichtszüge der Beiden bewegen sich zwischen dumpfer Ausdruckslosigkeit und scheinbar unkontrollierten Entgleisungen, die Körpersprache ebenfalls: Finger, die schlapp und ungerichtet im Gesicht der Anderen herumfummeln, groteske Arm- und Beinbewegungen, fremdgesteuerte marionettenhaft erscheinende Körperteile zeichnen ein merkwürdig-schräges Körperbild. Die konsequente Uneitelkeit und der feine Grad zwischen Humor und Ernsthaftigkeit prägen diese Arbeit: mit der ungewöhnlichen Inszenierung von Körpern stellen Gladstone & Taniko die Zuschauenden auf die Probe und prägen eine Ästhetik der Differenz.


Gosia Gajdemska: the (first) touch
Magierin
Ästhetik à la David Copperfield oder Hans Klok
90er Jahre
Diese Soloarbeit entführt die Zuschauer*innen in eine Zeitreise – zurück in die 90er Jahre, zu den Magiershows von David Copperfield oder Hans Klok. Als hätte sie diese auf choreografische und tänzerische Strategien untersucht, konstruiert die Tänzerin Gosia Gajdemska eine Stimmung von Spannung und Nervenkitzel nicht ohne, dass es auch ein bisschen ins Absurde kippt. Wie sie sich mit ihren knallroten Haaren, ganz in schwarz gekleidet, zu mystisch-dramatischer Musik von Impulsen ihrer Hand (im schwarzen Handschuh) durch den Raum leiten lässt und dabei keine Miene verzieht, erinnert abwechselnd an die oben genannten Zauberkünstler oder an Szenen aus Filmen, in denen sich Geheimagent*innen durch die Laserschranken von Hochsicherheitstrakts manövrieren. Das ist alles nicht ohne Unterhaltungswert, gleichzeitig bleibt die Frage, in welchem Setting sich die Künstlerin verortet und ob die Bilder, die hier unwillkürlich aufgerufen werden, nicht der eigentlichen Idee im Weg stehen...


Nicole Wendel & Audrey Rose Burden: YES_NO_YES
Kreidespuren
Completing the Form
Spiel
Audrey Rose Burden & Nicole Wendel sind auf der Suche nach vollendeter Form auf kleinstem Raum: mit ihren Körpern versuchen sie spielerisch eine Form zu erreichen, der sie beide zustimmen können. Dafür bewegen sie sich zu zweit auf einer kleinen schwarzen Matte und folgen einem Score mit klaren Handlungsanweisungen: Eine bewegt sich und verändert die gemeinsame Form, die Andere stimmt zu (YES) oder lehnt ab (NO). Vor jedem Positionswechsel werden die Berührungspunkte von Körperteil und Matte mit Kreide nachgezeichnet und hinterlassen ein tatortartiges Bild, das mit den Kreidespuren die verschiedenen Körperpositionen nachbildet und konserviert. Damit verweisen Burden & Wendel auf das Spannungsfeld zwischen Flüchtigkeit und Archivierbarkeit von Bewegung und befragen außerdem die Mechanismen von Entscheidungsfindung und Interaktion mit dem Gegenüber: Wie gehen wir auf kommunikative Impulse des Anderen ein? Wie und warum entscheiden wir uns, mit dem Anderen mitzugehen und wann grenzen wir uns ab?


Manuel Meza: Ates
over the top
Dramatik kippt in Ironie (unfreiwillig?)
Sympathie für den Tanzenden beeinflusst die Wahrnehmung
Manuel Meza hat in seinem Solo eine Trauer verarbeitet. Er vertanzt den Verlust eines geliebten Menschen, wie wir aus dem Programmheft erfahren können. Zum Glück habe ich noch einmal einen Blick auf den Text geworfen. Sagen wir mal so: Sympathie für den Tanzenden beeinflusst die Wahrnehmung. Mit gesenktem Kopf betritt er die Bühne, seine Füße schlurfen auf dem Boden, der Oberkörper nimmt eine leichte Krümmung ein. Der Musiker Pablo Lenero hat als Komplize den atmosphärischen Soundtrack für dieses mutige, weil so persönliche Vorhaben geliefert.
Vor dem Tänzer am Boden: ein Kirsch?-Kuchen – ein Gebäck jedenfalls, mit rotem Inhalt, über das er sich beugt und mit den Händen zum Mund führt. Gierig verleibt er sich die weiche Masse ein, als sei es das Letzte, was ihm noch zu tun übrig bliebe. Sein Gesicht und Oberkörper – Blut-, nein: rot-verschmiert. Momente wie diese, wenn die Dramatik (unfreiwillig) in Ironie kippt, fordern die kritische und wohlwollende Zuschauer*in gleichermaßen heraus. Die theatralen Mittel: an der Grenze zwischen Lachen und Weinen. Davon abgesehen bleibt ein rührender, sensibler Auftritt, wenn er im Tanz ganz bei sich zu sein scheint. Das ist eben auch 10 times 6: „over the top“.


Enrico Paglialunga & Giacomo Mattogno: Mapping
Raster
Irrwege
umherwirbeln
Auf dem Boden ist ein mit weißem Gaffatape aufgeklebtes großes Quadrat zu sehen, durchkreuzt von einer horizontalen blauen und einer vertikalen roten Linie, die wiederum vier Quadrate bilden. In diesem Raster bewegt sich der Tänzer Enrico Paglialunga, hinter ihm befindet sich der Musiker Giacomo Mattogno, eine Neonröhre am Musik-Pult verströmt kaltes Licht. Boden-Linien und effektvoll platzierte Neonröhre erzeugen einen clean designten Raum und lassen zunächst eher cooles Understatement oder Konzept-Kunst erahnen; was jedoch folgt ist unerwartet virtuos-lyrischer Tanz. Paglialunga wirbelt umher, dreht sich, lässt seinen Körper durchfahren von schnellen Impulsen, die er gekonnt in weiche sowie harte, fließende und schnelle Qualitäten verwandelt, er scheint getrieben zu sein, auf der Suche nach etwas. Die Rasterlandschaft auf dem Boden scheint seine Bewegungen zu beeinflussen, Irrwege tun sich auf, dazu der getriebene, beatlastige und doch von harmonischen Klängen durchzogene Sound von Giacomo Mattogno. Die dichte Kombination von Musik und Tanz lässt die Zuschauenden intensiv eintauchen, und auch wenn die Darstellung von menschlichen Zuständen (Tanz/ Musik) in Verbindung mit Orten (Raster) manchmal etwas naiv geraten ist (ein Schritt über die Linie, Musik und Tanz ändert sich radikal, ein Schritt zurück, Musik und Tanz wieder zurück), überzeugt am Ende die tänzerische und musikalische Qualität dieser Arbeit.


Martijn Joling: The day after yesterday
Amy Pender ist cool
entschieden, schnell, präzise angedeutet und gleich wieder weggeschmissen
Leichtigkeit und Härte
Nummer Sieben ist mein klarer Favorit des Abends. Die Tänzerin Amy Pender, gekleidet im lässig-schickem Sportdress, besticht mit einer sehr präzise gearbeiteten klaren Choreografie, die sich aus einem Score entwickelt, den die Tänzerin erst 24 Stunden zuvor bekommen hat. Dass das Konzept von Martijn Joling aufgeht, beweisen diese 6 Minuten voller entschiedener, schneller, exakter, teils angedeuteter Bewegungen, die im nächsten Moment wieder weggeschmissen, umgewandelt werden. Es sind sich wiederholende Gesten, zum regelmäßigen Metrum der Musik, ausgeführt zwischen Lässigkeit und Härte, physischer Kraft und Gelassenheit. Um das Konzept wirklich fassen zu können, hätte sich ein zweiter Besuch gelohnt, am folgenden Abend wird der gleiche Score von einem anderen Tänzer (Ichiro Sugae) interpretiert. Vielleicht wären da zwei mal drei Minuten auch eine Option gewesen. So lässt sich „nur“ der Eindruck wiederholen: Amy Pender ist cool.


Anjal Chande: This is How I Feel Today
Abiballkönigin
Füße, die präzise auf den Boden stampfen
von Priviligien und dem Glauben an die Kunst
Anjal Chande ist eine freundliche Erscheinung. Mit ihrer knallgelben akkuraten Bluse, der weißen engen Anzughose und dem ordentlich frisierten Haar wirkt sie, als wäre sie auf dem Weg ins Büro. Aus dem Off spricht eine weibliche (Anjal Chandes?) Stimme einen Text über Privilegien und dem Glauben an die Kunst: im Redestil einer Abiballkönigin berichtet sie über Momente, in denen ihr klar wurde, welchen großen Wert die Kunst hat, und dass es diesen zu verteidigen gilt, über Momente des Erkennens der eigenen Privilegien, als Künstlerin etwas schaffen zu können. Der Off-Text wird begleitet von Anjal Chandes illustrierenden Bewegungen die, kongruent zu ihrer äußerlichen Erscheinung, sauber und detailgenau gearbeitet sind. Arme zeichnen klare Linien, Füße stampfen präzise auf den Boden und Gesichtsmimik bebildert den Text exakt. Der Rhythmus von Sprache und Tanz ist genau pointiert, der Raum wird durch die körperliche Bewegung gleichmäßig komponiert. Ohne viel Rätsel oder Doppeldeutigkeit präsentiert sich dieses Mosaik aus Text, Mimik und Körpersprache in humorvoller und sympathischer Weise.


Julia Vandehof: Persephone – A work in progress showing
Mittelalter
Krötenkampf am Boden
Was ist das?
10 times 6 heißt auch: man sitzt am gewohnten Platz im vertrauten ada Studio, schaut halb betroffen, halb bewundernd in Richtung Bühne und im Kopf wiederholt eine Stimme ungläubig: „Was ist das?“ Eine Gruppe von Studierenden des postgradualen Masterstudiengangs für „Devised Theater“ (welcher Uni?) haben sich mit dem Mythos der Persephone beschäftigt (Regie/ Konzept: Julia Vandehof). Sie schreiten in langen, dunklen Gewändern über die Bühne, halten menschengroße Holz-Konstruktionen von schmalen, hohen Quadern vor sich her, in die sie abwechselnd eintreten, rezitieren in priesterhafter / ritueller Manier Fetzen des Mythos und geben neben einigen Tanztheater-Phrasen immer wieder performative Momente zum besten. Es passiert also ganz schön viel in diesen sechs Minuten – zum Beispiel: Krötenkampf am Boden. Zum Beispiel: ein Glas Wasser, in das ein Tintenfleck getropft wird. Ansonsten vor allem: bedeutungsvolles Schreiten, Versatzstücke des Textes. Zwischen Kleinkunst und Mittelalter-Show changiert diese Darbietung, die am allerwenigsten an Ästhetiken des zeitgenössichen Tanzes erinnert und mich ehrlich verblüfft zurück lässt.


Nicole Michalla, Maria Torrents & Alba Del Rio Serrato: Nomen Nescio
Versuch einer grotesken Landschaft
fast-nackte Körper – (kommen nicht umhin, noch immer schön aussehen zu müssen)
Körper / Stimme gegen den Sturm
Ein morbides Anfangsbild eröffnet das Stück: Die Tänzerinnen Nicole Michalla und Maria Torrents liegen jeweils gekrümmt in einem Haufen Eierschalen und die Sängerin Alba Del Rio Serrato sitzt bedeutungsschwanger im langen schwarzen Kleid vor einem Mikrophonständer in der hinteren Ecke des Raums. Langsam beginnen die Tänzerinnen, beide in hautfarbener Unterwäsche bekleidet, sich abgehackt zu bewegen, ihre Gesichter zu verziehen – sie scheinen sich gegen etwas zu wehren, mit etwas zu kämpfen, aus etwas ausbrechen zu wollen. Dazu erklingt wehender Gesang, irgendwann beginnt auch die Sängerin, körperlich einzusacken, ihre körperliche Erscheinung deformieren zu wollen – es scheint als ob die drei Performerinnen sich mit ihren Körpern/ ihrer Stimme mit aller Kraft gegen den Sturm stellen und dabei ihre Form einbüßen.
Der Versuch, mit „Nomen Nescio” eine groteske Landschaft zu zeichnen, ist dabei nur bedingt gelungen, denn die makellosen fast-nackten Körper der Tänzerinnen kommen nicht umhin, noch immer schön aussehen zu müssen. Der Versuch einer Zeichnung von grotesken Körpern misslingt, weil diese eben trotz angestrebter Deformation immer noch schön inszeniert werden. Zum Ende wird die Musik immer stärker – ein Rauschen wird lauter und die Körper und Stimmen geraten immer mehr unter Spannung, bis alles abrupt abbricht. Interessant wäre zu erfahren, was danach passiert: Könnte ein Bruch folgen, der die makellos-schöne Erscheinung der Tänzerinnenkörper mitdenkt? Was würde das für die Inszenierung der Körper bedeuten?


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

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