Text zu 10 times 6 (8./9. April 2017) von Alexandra Hennig

 

 

Auch der zweite „10 times 6“-Marathon dieser ada-Spielzeit 2016/17 lässt mich erwartungsgemäß atemlos zurück – das Neben- und Durcheinander der Ästhetiken, die künstlerische Reizüberflutung setzen gnadenlose Akzente: was bleibt hängen, was entgeht der Aufmerksamkeit? Bemerkenswert ist, dass die meisten Künstler*innen an diesem Wochenende nicht etwa auf der Bühne verweilen (Laden 6 Minuten zum Verweilen ein?) – nein – sie expandieren: in Richtung Flur / in exotistische Gefilde (9); zu den hellsten Sternenbildern (7); kehren zum Boden zurück; kleiden sich mit Folie ein (5); sind zusammen (1) / erheben ihre Stimmen (8); grooven sich ein (2); zeigen mitten auf die Mitte ihres Gesichts (4); räumen auf (10); bleiben bei sich (6); scheuen die schwerwiegenden Themen nicht (2) und: Ehe man sich versieht, findet man sich taumelnd auf dem Nach-Hause-Weg, die Erinnerungen verschwimmen, Bilder überlagern sich und daher folgt hier der Versuch, die Bausteine auseinander zu dividieren, eins bis zehn, von Anfang an, 10 Texte in 60 Minuten, go!

(1) Lina Kukulis und Laura Giuntoli haben sich in Turtle von Raffaella Galdi, die die Choreografie gemeinsam mit den Tänzerinnen entwickelt hat, mit Zusammensein auf einer sehr grundlegenden Ebene beschäftigt. Sie tun das auf schlichte, unaufgeregte Weise, über solide geformtes Partnering zweier Tänzerinnen, die harmonisieren, sich Arm in Arm zur Seite stehen, während sie ihre Gesichter auf den Nacken der Anderen ablegen, miteinander abtauchen und ab und zu ihre Arme heben, um in eine rätselhafte Ferne zu blicken. Ein bequemer Einstieg in diesen Abend, der noch Streitbareres bereit hält.

(2) Lady K heißt die Tanzperformance von Katherine Williams, die ihrer Arbeit ein echtes Schwergewicht verleiht, weil sie ins Staunen versetzt und bis zu Letzt eine leicht verschobene Achse von Zuschauer*innenblick und souverän-provokativer Gleichgültigkeit auf der Bühne aufrecht erhält. Sie hat ihren eigenen (zumindest unter Normvorstellungen) fülligen Tänzerinnen-Körper in seiner Beleibtheit zum Instrument gewählt. Mit Hilfe von dessen Gewicht, Fülle und Form bildet sich ihr Bewegungsmaterial und die Choreografie, die einen Befreiungsschlag wagt und die Frage in den Raum wirft, wie sich ‚andere‘ Körper im Tanz positionieren können/wollen. Ihre Strategie: Verweigerung von Virtuosität, Einsatz von Schwerkraft und Schmerz, salopper Umgang mit Bewegungsmustern – und dabei ist es eine Freude, ihr zuzusehen. Williams macht keine leichtfertigen Vorschläge, wenn sie die Blicke auf ihren eigenen Körper zum Anlass nimmt, ungewohnte Maßstäbe anzulegen. Im knappen Body und Glitzeroberteil rückt sie den Zuschauer*innen auf den Leib, scheut den Aufprall ihres Körpers nicht, verausgabt sich und schüttelt den normierenden Blick einfach von sich ab. Eine der mutigsten Positionen an diesem Abend, die das Wagnis der eigenen, nicht unangreifbaren Präsenz eingeht und ein starkes Statement setzt.

(3) Franziska Doffin und Julija Pečnikar, beide haben sich in ihrem Studium der Budapest Academy of Contemporary Dance kennen gelernt, entwickeln eine ausgeklügelt dichte und charmante Choreografie, die nach den Mustern der Wiederholung und des Gleichtaktes funktioniert und den Tänzer*innen Präzision und Ausdauer abverlangt. Aus der Yoga-Position des „herabschauenden Hundes“ wandern sie nach vorn, stoßen sich an der Anderen ab, nehmen Schwung und kreieren ihren eigenen Rhythmus, den sie aufeinander abstimmen, in geradlinigen Wegen über die Bühne verfolgen. Ausgehend von der Frage ‚Was ist Popmusik?’ spüren sie die Faszination an Regelmäßigkeit und Mustern auf und zeigen, dass Bounce auch zu Klaviergeklimper (ab)gehen kann.

(4) Olga Hohmann ist mit einem rosafarbenen Garderobenständer ins ada Studio eingezogen, an dem, prächtig, aber verloren ein übergroßes, ovales O baumelt. Die Nase, in Anlehnung an die gleichnamige Erzählung von Nikolai Gogol, in der dem Barbier Iwan Jakowlewitsch seine Nase abhanden kommt, begibt sich auf charmante Art in die unergründbaren Höhlen der prominenten Körperöffnung, deren Vorhandensein so selbstverständlich erscheint, dass es sich lohnt, der Tatsache auf den Grund zu gehen. Sie hat schlichte, aber wirkungsvolle Mittel gewählt, von der Entdeckung zu berichten – Monolog mit Garderobe. Eins steht fest: wenn einem der ‚kleine rosa Punkt‘ einmal bewusst geworden ist, lässt er sich nicht mehr so leicht aus dem Blickfeld verbannen. Aus diesem Leitsatz wird ein Ohrwurm, zu dem die Performerin eine eingängige Melodie anstimmt. So schnell werden wir „My nos is my nos aaannd all I nos is…“ wohl nicht mehr nos. Hohmann, die neben ihrem Regiestudium an der Ernst-Busch-Hochschule immer wieder (der Nase nach) ins HZT einkehrt und zudem auch noch als Käseverkäuferin tätig ist, besticht am Ende der sechs Minuten mit der Umkehrung des Offensichtlichen und einer Allegorie: Der einzige Ort, an dem man dem Anblick des Eiffelturms entkommen kann, liegt auf der Spitze des Eiffelturms.

(5) Es scheint, als würden Tänzer*innen niemals müde werden, sich auf vielfältige Weisen in Folie einzuhüllen, zu umwickeln und wieder heraus zu schälen – „seit Loïe Fuller Ende des vorletzten Jahrhunderts mit ihren ausladenden Körper-Figurationen aus riesigen Kostüm-Stoffen und Lichtinstallationen für Aufsehen gesorgt hat, sind doch alle folgenden Versuche, mit schwebendem Material oder Schleiern Bewegungssensationen zu kreieren, zum Scheitern verurteilt“, denke ich und gleichzeitig – „bitte keine Abdeck-Folie!“. Zugegeben: Caroline Kühner gelingt es als zeitgenössischer Puppenspielerin in folifoli_II. bubble durchaus in einigen Momenten, die Folie in ein eigenes Objekt zu transformieren und eine Art lebendige Installation zu schaffen, die nicht zuletzt dank der Sound-Kollage (Ville Aalto) eine echte ästhetische Erfahrung ermöglicht. Das Knistern der Folie ist nur zu gut mit dem Soundteppich verwoben. Aber auch der kann am Ende jedoch nicht verdecken, dass eine Stimme in mir nach Recycling schreit.

(6) Wahre Enthüllungen lassen nicht auf sich warten – Yotam Peled tritt zu einem Solo an, das seine Eitelkeiten und das Hadern mit der eigenen Virtuosität nicht verschleiert, sondern zum Thema erhebt. Stellen wir uns einen jungen Mann vor, der scheinbar in der Blüte seines Lebens, seiner tänzerischen Hochleistungsform, steht und das auch (selbst wenn er wollte) nicht verbergen kann, so wie er seine artistischen Moves auf die Bühne bringt – Rückwärtssalto aus dem Stand – kein Problem. Zu einer Soundspur voller Geständnisse à la: „my heart breaks easily / I don`t like Barcelona“ – gekoppelt mit einer geradezu bescheidenen Haltung, die zwischen Verletzlichkeit und Virtuosität changiert, ist es kaum vorstellbar, dass ihm jemand nicht zu Füßen liegt. Von wegen, Boys don’t cry

(7) Nach diesem exponierten Selbstbezug erleben wir den anonymen Soloauftritt einer Figur, die jenseits unseres Kosmos unterwegs ist. Für die 6 Minuten auf der ada Bühne gelandet, begegnet uns Daniela Marcozzi alias Aldebaran (Alfa Tauri), der, wie wir aus dem Programmheft erfahren, der allerhellste Stern im Sternbild Stier sei – auf halber Strecke zwischen den Hyaden (Sternenhaufen) und der Erde unterwegs. Die Sehnsucht, einem kosmischen Wesen nicht nur zu begegnen, sondern auch mit ihm in Interaktion zu treten, bleibt natürlich, wie so oft, uneingelöst. Aldebaran kommt auf allen Vieren auf die Bühne gekrabbelt, einmal im Rampenlicht, lässt sich die etwas gekrümmte, zarte Gestalt mit der affenartigen Maske zwar in Ruhe betrachten, über ein zartes abtasten des Umraums, in dem es scheinbar so unvermittelt gelandet ist, kommt es uns jedoch nicht näher. Das Licht wird gedämpft und das Wesen verschwindet hinaus in den Flur, als sei es doch einmal falsch abgebogen. Das ist auch das Schöne an „10 times 6“ – Momentaufnahmen zwischen den Welten.

(8) Abgehoben geht es weiter, auch wenn die drei Performer*innen in BAND or Coast Companions: Judith Förster, Johanne Merke und Jonas Wentritt, derzeit Studierende des BA am HZT, die meiste Zeit am Boden verbringen. Vor dem Hintergrund eines grün-glitzernden Sternenhimmels (sehr schön anzusehen!) stimmen sie einen Chor aus Gemurmel und Seufzern an, der bald zu einem wimmernden Grollen anwächst und neben dem kläglichen Aufflackern einer einzelnen Lava-Lampe die Szenerie bestimmt. Die drei Performer*innen, scheinbar schutzlos in die Welt geworfen, unternehmen nur halbseitige Versuche, sich aufzurichten, kippen immer wieder zu den Seiten um und kommen auch sonst nur bis knapp über den Boden hinweg. Im Gegensatz dazu befindet sich der Theorie-Turm, den die drei im Abendzettel errichtet haben, in schwindelerregenden Höhen (und weiter Ferne). Angereichert mit großen schlauwi-schlauen Worten und dem Verweis auf Donna Haraway, formulieren sie ihr Interesse für die Gleichzeitigkeit von Stimmen, für Komplexität und ‚coast companion‘(-ship), die ins Uferlose abdriftet. Der Gedanke, die Stimme sei imstande, die Grenzen des eigenen Körpers zu durchdringen, die Unterscheidung von Innen und Außen durchlässig zu machen, ist vielleicht ein Schlüssel zu dieser Arbeit, der aber kaum weiter ausformuliert wird. Auch wenn diese Soundkollage durchaus kollektive Vibrationen in Gang setzen kann – das Stimmgewirr läuft ohne Bezug zur lauthalsen Theorie ebenso gut Gefahr, einfach zu verhallen.

(9) Wer in den letzten Jahren montagnachmittags in Dresden unterwegs war, den kann schon mal das Fernweh packen. Drei Mitglieder der Performancegruppe iOver, Valentin Schmehl, Lucian Patermann und Carl Thiemt, zeigen einen 6minütigen Ausschnitt aus einer abendfüllenden Performance über Exotismus, die sie 2016 in Dresden erarbeitet haben.
Ich bin mir selbst das Fleisch des Fremden handelt von dem Widerstreit zwischen Faszination und Angst, die den Mechanismen der Abgrenzung vom vermeintlich Anderen inne wohnen und verfolgt die Perspektive, dass dieses scheinbar „Fremde“ das „Eigene“ immer schon durchkreuzt haben wird. Aus der Einsicht, sich selbst zwingend fremd bleiben zu müssen, schöpfen iOver ihr kreatives Potential, um eine Welt zu umarmen, deren Grenzen allmählich in sich zusammen schrumpfen. Dazu haben sie einiges aufgefahren: mit einem Rollkoffer – Symbol des modernen Weltenbürgers – betritt jemand die Bühne, breitet den „orientalischen“ Teppich aus, um, ausgestattet mit einer armenischen Kappe auf den Kopf, erste Takte auf einem „fern-östlich“ anmutenden Instrument zu spielen. Carl Thiemt, ausgebildeter Sänger und Musiker, kann die Sitar, eine nordindische Langhalslaute, tatsächlich spielen, wie er mir nach der Vorstellung erzählt; Valentin Schmehl ist mit seiner künstlerischen Tätigkeit immer schon in sozio- und interkulturellen Kontexten beheimatet und das erklärt unter anderem auch, warum diese Performance keine reine Repräsentation von theoretischen Konzepten ist. Wenn die nymphengleiche Gestalt (Schmehl) im blauen Kleid auf Highheals die Bühne betritt und mit ihrem sägend-hohen Glockengesang das Eigene-Fremde beschwört – die Welt als schrumpfender Luftballon in ihren Armen – hinterlässt die Einsicht über den Verlust der eigenen Identitätskonstruktionen eine feierliche Melancholie. Der Gesang, der auch über den Flur noch das Studio beschallt, tritt auf als alarmierendes Echo, als Antwort auf die Ressentiments, mit denen eine Weltordnung umso aggressiver verteidigt wird, umso eifriger die Widersprüche im eigenen Selbst negiert werden.

(10) Lisanne Goodhue hat das Konzept/den Score für den Performer Michael Shapira entwickelt, das sich als Teil einer größeren Recherche der Theatersituation an sich widmet. The way to do it ist ein Versuch, das Theater auseinander zu nehmen, es in seine Elemente zu zerlegen. Tatsächlich haben diese sechs Minuten eher den Charakter einer gut gelungenen Slapstick-Nummer. Mit Schutzhelm-Ausrüstung begegnet Michael Shapira den Stühlen, der Bühne, dem Raum, dem Vorhang und den Zuschauer*innen, in einer latent paranoiden Manier, die zwischen Angriff, Vorsicht und Erstaunen changiert. Wenn er sich etwa unverfroren in den Stuhlhaufen schmeißt, penibel eine Schnur als Weg-Kreuzung verlegt oder bedröppelt in die Zuschauerreihen schaut, verfehlt das seine Komik nicht.
Diese Skizze am Ende des Abends, zu der auch gehört, dass die Requisiten einmal von der Bühne abgeräumt werden, weckt eine entfernte Erinnerung daran, dass wir uns im Theater im besten Fall auf einiges gefasst machen sollten.


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

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