Zu Gast bei „NAH DRAN extended: shifting views“ (10./11. Juni 2018) waren Studierende des theaterwissenschaftlichen Praxisseminars „Wie (kritisch) über Tanzaufführungen schreiben?“/FU Berlin. Hier veröffentlichen wir die „Gasttexte“:

 

Vorwort der Seminarleiterin Anna Volkland

 

Liebe Leser*innen,

shifting views – Perspektivverschiebungen – versprach die letzte Ausgabe von NAH DRAN extended. Eben solchen, mal in Details zu findenden, mal grundsätzlichen Verschiebungen der Perspektive, des Wahrnehmungsfokus’ und in der Bewertung des Beobachteten kann man auch nachgehen in den hier erstmals und einmalig veröffentlichten „Gast“-Texten von Studierenden des theaterwissenschaftlichen Praxisseminars „Wie (kritisch) über Tanzaufführungen schreiben?“.

Das in drei Wochenendblöcken abgehaltene Seminar der Freien Universität Berlin , das jetzt Anfang Juni endete, sollte keinesfalls ein journalistischer Schnellkurs in Sachen Tanzrezension sein, vielmehr ging es darum, die speziellen Herausforderungen des öffentlich reflektierenden Schreibens über nicht-primär-textbasierte Performances (man könnte auch sagen: Tanz) zu erkunden, eigene Ansprüche an tanzkritisches Schreiben zu formulieren, sich zu fragen, warum überhaupt über Tanz geschrieben werden sollte, was es mit der oft besprochenen Krise der journalistischen Tanzkritik auf sich hat und welche Antworten hierauf gefunden werden könnten. Und schließlich wurde an jedem Wochenende gemeinsam Tanz geschaut und in verschiedenen Formen übend rezensiert.

Die Autor*innen studieren im Haupt- oder Nebenfach Theaterwissenschaft (B.A.) und im Erst- oder Zweitfach u.a. Philosophie, Publizistik oder Englische Philologie. Niemand hatte bisher Erfahrungen im Schreiben über Tanz oder von Kritiken, alle waren zum ersten Mal im ada Studio zu Gast. Jede*r für sich hat schließlich innerhalb von 5 Tagen neben Seminaren, Hausarbeiten und sonstigen Verpflichtungen einen eigenen Text geschrieben.

Vielen Dank an Gabi Beier und Alexandra Hennig für die Möglichkeit zur Veröffentlichung und vielen Dank an die Studierenden für ihre wunderbare Neugierde und ihr großes Engagement im Seminar!

Viel Spaß beim Lesen!

Anna Volkland (Seminarleitung)

 

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Riss aus der Behaglichkeit von Linus Pook

Nach der Pause werde ich kalt erwischt. Dem behutsamen Nachspüren von Klängen in der ersten Performance des NAH DRAN extended-Abends, Solid Rock Interaction von Manon Parent, folgten Einblicke in die Strukturen von Bewegungen und Entscheidungen, die Shai Faran und Aya Steigmann in Will we ever make up our minds…? anboten. Ich bin entspannt während dieses kurzen Pause im Hof der Uferstudios, eingestellt auf ein weiteres Stück, welches den genauen Blick abverlangt, Behaglichkeit verbreitet, mich zur Ruhe kommen lässt.
Dann kommt Nasheeka Nedsreal und reißt mich aus diesem gemütlichen Kokon. Selten schlug mir in einer Performance eine derartige Dichte entgegen, deren einzelne Bestandteile und Sätze nicht verwischen, nie beliebig werden, nichts an Kraft verlieren, wie in Nedsreals Obscure Noir.
Die Performance wird zu Bericht und Anklage, zu Forderung und Konfrontation und über all dem zum Ausdruck selbstbewussten, kraftvollen Stolzes.
Nedsreal spannt ein engmaschiges Netz aus Vergangenheit, dem Moment der gegenwärtigen Performance, Kontinuitäten: Das Sichtbarmachen eigener Schwarzer Erfahrungen in einer weiß dominierten Umgebung, die sich in Körper eingebrannt haben, das Hörbarmachen fremder Ansichten und Haltungen, die sich teils decken, teils abweichen, auf ähnliche Erfahrungen sich beziehen. Gewalt, Unterdrückung, Abwertung, Stereotypisierung werden ebenso vermittelt wie die Strategien des Umgangs damit und des Kampfes dagegen. Nedsreal greift auf allen Ebenen an. Theorie und Erfahrung, Körper und Wort treffen aufeinander, werden vereint. Eben noch dem Spiegel in einer Ecke der Bühne zugewandt, sich posierend betrachtend, präsentiert Nedsreal dem Publikum im nächsten Moment etliche theoretische Werke, die antirassistische Kämpfe bis heute prägen: Aus einer Tasche zieht sie Bücher, stellt Bezüge her, stößt mich auf meine Unwissenheit. Der Erinnerung an Ikonen, Kämpfer*innen und ihre Bedeutung, die bis heute anhält, gibt Nedsreal ihr leibliche Präsenz an die Hand: Die Bücher, die sie präsentierte, kenne ich nicht. Eines steht in meinem Regal, ich habe es gekauft und nie gelesen. Ihr aber kann ich mich nicht entziehen, kann nicht ignorieren, kann für den Moment nicht weg. Ich sitze und höre und sehe sie brennen, für das, was sie zu sagen, zu performen hat. Sehe sie, ihre Bewegungen, verstehe sie als Auseinandersetzung mit Klischees Schwarzer Bewegungen. Sehe sie twerken und springen; vor allem aber ein anscheinend unendliches Repertoire an Bewegungen verschiedenster Stile und deren Präzision, die nie ihre Wirkung verfehlt und stets einschlägt. Ich werde auf eigene Imaginationen zurückgeworfen und gestoßen. Ein wiederkehrendes Strange Fruit-Sample steht neben den Stimmen und Gesichtern Schwarzer junger Menschen, die schlagwortartig von ihrem Sein in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft berichten. Groß, dicht, voller Kraft und Potential zu verändern ist Obscure Noir. Als der matt klingende Applaus von knapp 40 Zuschauenden erklingt, wünsche ich mir mehr, größeren, aufmerksameren Raum für diese Stück und fürchte, mir davon bloß einen Ausweg aus der direkten Konfrontation (zwischen Nedsreal und mir liegen wenige Meter) zu erhoffen. Es wäre aussichtlos. Entziehen kann man sich diesem Stück nicht.
Es ist ein großer Kontrast, mit dem Kuratorin Lee Méir das Publikum dieser Ausgabe des NAH DRAN extended Formats konfrontiert und ich frage mich, ob dieser Rahmen den einzelnen Performances gerecht wird. Zwangläufig übertönt Obscure Noir die Bedächtigkeit der anderen Stücke, zwangsläufig verblassen diese.
Der Abend beginnt etwa eine Stunde vorher vorsichtig: Mit Helm, Knie- und Handschonern betreten Manon Parent und Miriam Siebenstädt den Raum. In sich gekehrt, fast schüchtern, als wären sie in ein kindliches Spiel versunken, bewegen sie Dinge. Eine Rettungsdecke raschelt, Boulekugeln werden langsam durch den Raum gerollt, Plastikschoner schlagen rhythmisch auf den Boden. Gut geschützt treffen die Performerinnen in Parents Solid Rock Interaction (Dramaturgie: Zwoisy Mears-Clarke) auf Objekte. Es entstehen Klänge, Richtungen verändern sich. Boulekugel trifft auf Siebenstädt.
Ihre Kollision verhallt. Es ist seltsam, dieser Performance im Zuschauerraum sitzend zuzusehen. Ich möchte mitspielen, möchte Kugeln schneller rollen und das Geschehen beschleunigen – selbst bewegen und den entstehenden Geräuschen lauschen. Solid Rock Interaction entwickelt eine meditative Wirkung und hilft, im Raum anzukommen und sich auf den Abend einzulassen, langsam sensibler zu werden. Es ist eine besondere Ruhe die von diesen Interaktionen ausgeht: Immer wieder fühle ich mich, als würde ich Kinder bei ihrem versonnenen Spiel betrachten. Neue Zugänge zum Denken über Begegnung, über das Aufeinandertreffen von Körpern, über die gegenseitige Abgrenzung und Beeinflussung, schaffen sie mir an diesem Abend nicht. Wäre dies in einer anderen Zusammenstellung der Stücke dieses Abends anders? Wie weit hat sich die Wirkung der einzelnen Performance der Konzeption des Abends, wie sie Méir vornahm, unterzuordnen?
Nicht nur chronologisch steht Farans Will we ever make up our minds…? zwischen Solid Rock Interaction und Obsucure Noir. Der Fokus weitet sich an diesem Abend sukzessiv. Rückten Parent und Siebenstädt die Details, die feinen Unterschiede der Klänge, die kleinen Abweichungen zwischen Bewegungen ins Zentrum ihrer Beobachtungen, so gehen die Tänzerinnen Faran und Steigman einen Schritt zurück und fassen einen größeren Ausschnitt ins Auge. Bewegungen beginnen und enden abrupt. Sie fließen aus, ändern ihre Richtung schlagartig, versiegen. Mir scheint, ich könnte beinahe sehen, wie sich Impulse und Energien durch die Körper Farans und Steigmans arbeiten, wie sie an Gelenken anstoßen, umkehren müssen, mit den physikalischen Gegebenheiten umzugehen haben. In anfänglichen Soloparts stellen die Performerinnen ihre Körper zur Musik Händels zunächst nebeneinander, ehe ihr Spiel ein gemeinsames wird. Sie nähern sich einander und dem Publikum, stoßen sich ab, zerlegen gemeinsame Bewegungen in Einzelnes. „Shai und Aya kennen sich seit sie 8 sind.“, heißt es im Programm; in der aktuellen Arbeit gehe es ums Entscheiden. Gedanken zu den Faktoren der Entscheidungsfindung eröffnet mir Farans Stück nur subtil. Es zeigt aber beeindruckend, was es heißen kann, unter Handlungszwang zu entscheiden: Bewegungen müssen weiterleben, Kontakte aufrechterhalten werden. Halt und Einschränkung bedeuten vertraute (Bewegungs-)Muster und der Kontakt zueinander. Unterstützung bietet das Vertrauen, dessen Schönheit sich erahnen lässt. Ich bin berührt. Dann kommt die Pause.

 

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Ein ambivalenter Abend der schwerwiegenden Themen von Isabelle Chastenier

 

I. Manon Parent & Miriam Siebenstädt: Solid Rock Interaction

So schlicht und schnörkellos, wie das ada Studio von innen aussieht, so bewegen sich auch die Performerinnen in diesem Umfeld. Manon Parent und Miriam Siebenstädt erkunden mit den einfachsten Mitteln das Geräuschspektrum, das die vorhandenen Requisiten hergeben. Auf der Bühne verteilt liegen, wie der Titel verspicht, Steine, aber auch Boule-Kugeln, Rettungsfolie und zwei unterschiedlich große Metallplatten. Während die Kleidung der beiden Darstellerinnen - schwarz-weiße Alltagskleidung unter Knie- und Ellbogenschonern sowie Helm - eine rasante und körperlich anspruchsvolle Perfomance verspricht, bleiben beide vorsichtig mit sich und ihrer Umwelt. Zuerst versuchen sie die Folie. Jedes Stück wird zusammengeknüllt und wieder hingelegt. Genauso systematisch arbeiten sie sich an allen anderen geräuscherzeugenden Gegenständen ab: die Boule-Kugeln, die Steine, die Metallplatten und ihre Schoner und Helme im Kontakt mit dem Boden. Sie wirken auf mich wie zwei Katzen, die ihr Umfeld spielerisch und vorsichtig erkunden. Zwischendurch gibt es kraftlose Momente des Zusammensackens und auch in den Gesichtsausdrücken ist teilweise Verwirrung, wenn nicht sogar Verstörung zu lesen. Am Ende haben sie alle Möglichkeiten der Geräuscherzeugung ausprobiert, ohne dabei jemanden erschreckt zu haben. Was bleibt, ist die Frage nach der Konsequenz: Wohin führen mich all diese akustischen Inputs, die Parent und Siebenstädt gesammelt und vorgestellt haben, wenn die Performance an diesem Punkt zu Ende ist?


II. Shai Faran: Will we ever make up our minds?

Zu träumerischen Klängen bewegen sich Aya Steigmann und Shai Faran durch den nun leeren Bühnenraum. Der hier getanzte Gaga-Style erscheint mir fließend und elegant, zugleich absurd und roboterartig. Die beiden Performerinnen vereinen diese Widersprüche erfolgreich in ihren muskulösen Körpern und bringen diese an Grenzen, über die ich noch nie auf die Idee kam, überhaupt nachzudenken. Die wenigen Impulse, die beide teilen, überraschen und befriedigen mich zugleich, denn obwohl die Musik nach einer Weile von elfenhaften Gesängen in rythmische Clubmusik übergeht, bleiben die Bewegungen weich. Faran und Steigmann biegen ihre Körper zu Formen, mal aus einem inneren Impuls heraus, mal wie von außen gezogen. Ich sehe die Verbindung zum selbst auferlegten Thema Entscheidungen und die Systeme und Motive, mit welchen wir sie treffen, aber nur, weil ich darum weiß. In der Erinnerung bleibt trotz der beeindruckenden Fähigkeiten der Tänzerinnen und ihrer wunderschönen Bewegungsfolgen nur der Eindruck einer faszinierenden Choreografie. Gewünscht hätte ich mir die Vielfältigkeit, die das Thema zulässt und eine deutlichere Dramaturgie für alle, die die Gaga-Sprache nicht sprechen.


III. Nasheeka Nedsreal: Obscure Noir

Die Frau, die nach der Pause mit dem Rücken zum Publikum die Bühne betritt, wirkt stark und ein wenig bedrohlich. Sie trägt einen schwarzen Kapuzenpulli und schwarze Pants, die den Fokus auf ihre langen, dünnen Beine legen. Diese Beine, so scheint es mir, benutzt Nasheeka Nedsreal rücksichts- und erbarmungslos, um mich völlig zu verunsichern. Ich bin sicher, sie meint nur mich, wenn ihre sparsam, aber kalkuliert eingesetzten Blicke unter der Kapuze hervor und ins Publikum schießen. Wie sie es schafft, dieses Gefühl nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen Zuschauer*innen hervorzurufen, werde ich wohl nie verstehen. Unterlegt ist ihre Performance von einer Videoprojektion der Gesichter dunkelhäutiger Menschen und ihrer Statements, die unabhängig vom Video Aussagen über Rassismus in Deutschland heutzutage treffen. Die Reizüberflutung überfordert mich und wirft mich in einen emotionalen Wirbelsturm der mich über Überraschung, Wut und Trauer zur Erschöpfung bringt. Die Texte allein hätten das sicherlich nicht geschafft. Im rot erleuchteten Raum bewegt sich Nedsreal wie eine Rachegöttin und wird zu den Menschen die sprechen, wird zu ihren Aussagen. Später stellt sie sich mit dem Rücken zum Publikum vor einen Spiegel und tanzt mit sehr viel Freude zu dem Medley aus Pop- Hiphop- und Clubmusik. Der türkise Lippenstift, den sie aufträgt, bringt mich zum Lächeln. Sie sieht großartig damit aus. Am Ende ist sie über die Bühne gewirbelt, hat sich zusammen- und auseinandergefaltet, hat uns weitergebildet, aufmerksam gemacht und ihren Körper zur Verfügung gestellt, um schonungslos zu zeigen, wie sie und andere unter Rassismus leiden, ohne dabei die Macht über sich oder über mich aufzugeben. Ich versuche, ihre Performance nicht persönlich zu nehmen, aber es gelingt mir nicht. Ich nehme mir die Freiheit davon auszugehen, dass sie es persönlich meint.

 

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Das Offensichtliche ist nicht immer sichtbar von Carolina Carvalho Sousa Cardoso

 

10. Juni 2017. Samstagabend. NAH DRAN extended: shifting views. Mein erster Besuch der ada Studios. Ich bin enttäuscht! Der Raum ist sogar noch kleiner als ich es mir vorgestellt hatte. Die Atmosphäre wirkt auf mich gelassen, jedoch interessiert, vielfältig, jedoch intim. Ich bin neugierig, die Ankündigungstexte öffneten teilweise große, tiefe Themen. Manon Parent thematisiert in „Solid Rock Interaction” die Kommunikation und Interaktion zwischen Menschen anhand rhythmischer Muster, Shai Faran fragt in ihrem Duett „Will we ever make up our minds...?”, welche Kraft uns am stärksten zum Treffen von Entscheidungen führt und zuletzt bringt Nasheeka Nedsreal mit „Obscure Noir” Themen wie Gleichheit und Freiheit im Rahmen „der schwarzen Körper in überwiegend weißen Räume” ein.

Die ersten beiden Performerinnen treten auf. Auf der weißen, nackten Bühne liegen verteilt Steine und metallische kleine Bälle, zwei Metallplatten sind in der Ecke zu erkennen und in der Mitte befinden sich riesige Alufolien (es hat mich zumindest daran erinnert). Manon Parent und Miriam Siebenstädt tragen Helme, Knie- und Ellbogenschützer. Die Performance wird nicht von Musik begleitet, durch die Interaktion mit den auf der Bühne vorhandenen Objekten –
das Umwickeln der riesigen Alufolien, das Rollen der Bälle, das Ziehen der Metallplatten – entstehen Klänge, die den Rhythmus der Performance vorgeben. Die Performance schafft in mir ein Gefühl der Unsicherheit und der Vorsicht wegen der achtsamen, schwankenden, bedachtsamen Bewegungen, aber auch (und hauptsächlich) wegen der Gesichtsausdrücke der Performerinnen. Ich konnte keine eindeutigen Gefühle oder Stimmungen spüren, deshalb wirkten sie auf mich zurückhaltend und- manchmal sogar verzweifelt. In diesem ersten Stück kommen mir zwei verletzliche, fragile und zarte Körper entgegen, die sich sogar eines Schutzmaterials bedienen müssen.

Das nächste Duo betritt die Bühne. Sie ist diesmal komplett leer. Die Körperlichkeit der Tänzerinnen ist beeindruckend. Eine ausgezeichnete Körperkraft ist klar zu erkennen; breite Schultern und muskulöse Arme fallen mir sofort auf. Zu einer klassischen Musik fängt Shai Faran an zu tanzen. Sie bewegt sich organisch und fließend im Gaga-Stil. Ihre Bewegungen sind mal zügig, mal ruhig, trotzdem immer angespannt. Aya Steigman tritt neben sie. Die Performerinnen zeigen eine beeindruckende physische Fähigkeit und sie füllen den Raum mit ihren Bewegungen. Jede tanzt eine eigene Choreographie, die ein gemeinsamen Prinzip hat; jede bewegt sich alleine, jedoch scheinen sie mir gemeinsam zu tanzen. Die hier präsentierten Gestalten verhalten sich antithetisch zu denen der ersten Performance. Zwei kraftvolle, stabile, leistungsfähige Körper beeindrucken mich.

Nach einer kurzen Pause kommt das letzte Stück: Nasheeka Nedsreals „Obscure Noir“.

Der Raum ist leer, bis auf einen Spiegel, der sich in der linken Ecke befindet. Das Licht geht aus. Es wird ein Video an die Wand projiziert; die Gesichtsausdrücke dunkelhäutiger Menschen werden vor einem weißen Hintergrund gezeigt. Nasheeka stellt sich in die Mitte der Bühne und fängt an, sich zu bewegen. Ich werde in diesem Moment gespalten und überfordert: Wo soll ich hinschauen? Soll ich beobachten, wie sie sich dynamisch, athletisch, lebhaft bewegt oder soll ich mich auf das projizierte Video konzentrieren? Mein Blick fällt auf sie. Sie tritt in einem schwarzen Hoodie und mit nackten Beinen auf, was ihre schlanke, ja dünne Figur unterstreicht. Die Performance wird neben Musik auch von Sprache begleitet, es sind Menschen zu hören, die über ihr Leben als Schwarze sprechen. Es werden Schwierigkeiten und Probleme geschildert, aber auch Stolz und Fröhlichkeit haben einen Platz in der Performance. Der Gesichtsausdruck und die Bewegungsqualität der Tänzerin verändert sich im Laufe der Performance; mal wirkt sie wütend, mal wirkt sie frech, mal wirkt sie spaßig. Trotzdem verliert sie nie eine Ausstrahlung von Kraft, Selbstbewusstsein und Sicherheit. Ich frage mich, wie ich ihren Körper einordnen soll: Ich sitze vor einem Körper, der dünn und fragil aussieht, der sich aber stark und sicher bewegt.

1+2=3? Zeigt mir Nasheeka Nedsreal eine Zusammensetzung der ersten beiden gezeigten Körper? Kann ein zartgliedriger Körper einen so kraftvollen Eindruck bewirken? Offensichtlich ja! Zumindest auf mich zu.

NAH DRAN extendend: shifting views hieß es. Perspektivwechsel. Bezüglich der Betrachtung des Körpers kann man an diesem Abend von einem Wechsel der Perspektiven sprechen. Zuerst Vulnerabilität, dann Vitalität und am Ende beides.

NAH DRAN extended: shifting views. Meiner Meinung nach? Ziel erreicht.

 

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Ein Abend mit drei Ebenen von Greta Haberer

Drei Performances, drei sehr unterschiedliche und sehr komplexe Themen. Instinktive und affektive Beziehungen zwischen Performer*innen und Klang-Objekten in „Solid Rock Interaction“ von Manon Parent, die Frage, welche Kraft uns am stärksten zu Entscheidungsprozessen führt in „Will we ever make up our minds…?“ von Shai Faran und der schwarze Körper in einem weißem Raum in „Obscure Noir“ von Nasheeka Nedsreal. Bei allen war ich auf die Umsetzung der Stückankündigungen gespannt und ob sie am Ende dem jeweiligen Thema gerecht wird. Ich hatte große Erwartungen, das muss ich zugeben. Diese wurden teils mehr, teils weniger erfüllt. Ich hatte mich von Anfang an gefragt, ob es einen Grund gibt, warum diese Stücke zusammen an einem Abend gezeigt werden, ob es eine Verbindung gibt. Eine Verbindung habe ich nicht gesehen, aber das soll keineswegs eine Kritik sein. Viel eher hat mir der Abend gezeigt, wie unterschiedlich Performances ihren Fokus legen können und wie mich das als Zuschauer*in in meiner Wahrnehmung beeinflusst. Desweiteren habe ich mich gefragt, wie weit die Reihenfolge der Stücke meine persönliche Meinung beeinflusst hat. Für mich gab es an dem Abend eine klare Steigerung, da ich aus der ersten Performance am wenigsten „mitnehmen“ konnte und aus der letzten am meisten. Gut gewählt also von den Organisator*innen. Doch was wäre, wenn ich „Obscure Noir“ als erstes gesehen hätte? Oder „Will we ever make up our minds…?“? Wäre meine Beurteilung am Ende genauso ausgefallen wie jetzt?

Solid Rock Interaction
Am Anfang ist absolute Stille, sofern dies in einem Raum mit 40 Menschen, die dicht aneinander gedrängt sitzen, möglich ist. Es ist fast schon unangenehm. Ich höre die Atemzüge meiner Sitznachbar*innen, irgendwo kratzt sich jemand und es ist mir unangenehm mein Notizheft aufzuschlagen, da das Rascheln des Papiers unglaublich laut erscheint. Nicht nur das; alle Geräusche und Klänge während der Performance erscheinen mir viel lauter, als sie eigentlich sein dürften. Eine Schulung für den Gehörsinn. Die beiden Performerinnen Miriam Siebenstädt und Zwoisy Mears-Clarke tragen Knie- und Ellenbogenschoner und einen Helm. Sie scheinen ein bisschen verloren darin, wirken kindlich und unbeholfen. Wie sie auf dem Boden liegen, krabbeln und kriechen, erinnern sie mich an Käfer, was durch das Klackern der Schoner auf dem Boden noch verstärkt wird. Trotz der Bewegungen liegt mein Fokus die gesamte Zeit auf den Geräuschen. Das Knistern der Wärmefolie, Schritte, rollende Metallkugeln, die gegen Steine stoßen, Metallplatten, die über den Boden gezogen werden und das Rauschen der Straße von draußen. Alle Geräusche von außen sehe ich als Teil der Performance, sie sind schließlich so präsent, wie alle anderen auch. Ein Erlebnis für die Ohren, doch mir fehlt der Tanz. Die ganze Zeit warte ich darauf, dass entweder Musik einsetzt, vielleicht ein Rhythmus der Töne zu erkennen ist, einen Bewegungsfolge oder eine Geschichte, etwas woran ich mich orientieren kann. Am Anfang glaube ich sogar eine zu erahnen: zwei auf dem Boden liegende Körper, Helme, silber-goldfarbene Folie – eine Unfallstelle. Doch das Bild verliert sich wieder schnell. Andere kann ich leider nicht finden. Vielleicht habe ich nicht konzentriert genug geschaut, zu fokussiert auf all die verschiedenen Klänge. Das Thema war die Kollision zwischen Oberflächen und Körpern, physischen Klangobjekten, das ist mir klar geworden, aber trotzdem hatte ich mehr Bewegung erwartet, mehr Töne durch die Körper vielleicht und körperliche Reaktionen auf Klänge und einander. Ein bisschen enttäuscht sitze ich danach da. Was soll mir das nun sagen? Soll es mir etwas sagen? Was ich mitnehme, ist ein anderes Bewusstsein für Klang.

Will we ever make up our minds…?
Schon als die Musik einsetzt, bin ich beinahe zufrieden. Ist es doch genau das, was ich in der vorherigen Performance vermisst habe. Es ist ein klassisches Stück, welches ich kenne, aber nicht zuordnen kann. Zunächst tanzt nur eine der beiden Performerinnen, Shai Faran, die auch gleichzeitig die Choreografin des Stückes ist. Nach einer Weile tauschen die beiden, Aya Steigmann tanzt nun, Shai Faran steht am Rand und schaut zu, bevor sie wieder mit einsteigt. Ihre Bewegungen sind fließend, ohne Pausen. Ihren Körpern ist anzusehen, wie viel Anspannung und Muskelkraft dafür nötig ist, die während der ganzen Zeit nicht verloren geht. Ich bin so beeindruckt, dass ich meinen Blick nicht abwenden kann. Sie halten ihre Arme und Beine teilweise in Winkeln, dass es fast ungesund aussieht, aber ihren Gesichtern kann man nichts ablesen. Gaga-Style, entwickelt von Ohad Naharin, wie ich später erfahre. Im Gegenteil zur ersten Performance liegt der Fokus hier eindeutig auf den Körpern und Bewegungen. Der weiße Raum des ada-Studios und die schlichte Kleidung der Performerinnen lässt auch keine Ablenkung zu. Sie selbst scheinen auch ganz bei sich zu sein. Kein Blick geht ins Publikum und auch nicht zur Partnerin, es gibt keine Interaktion und trotzdem scheint eine Verbindung zwischen den beiden zu bestehen. Doch diese Distanzierung stört mich überhaupt nicht. Es macht einfach Spaß ihnen zuzuschauen, so schön sind ihre Bewegungen. Ich frage mich, wie sehr sie sich des Publikums bewusst sind. Blenden sie es tatsächlich komplett aus, so wie es den Anschein hat?
Das einzige, was fehlt, ist ein Thema. Es soll um Entscheidungsprozesse gehen und darum, welche Kraft uns am stärksten dazu führt. Ich versuche diese Kräfte in den Bewegungen zu erkennen, doch kann sie höchstens anhand der wechselnden Musik erahnen. Die anfänglichen klassischen Stücke (u. a. von Händel) ordne ich der Liebe zu, der Leidenschaft, die spätere elektronische Musik eher negativen Einflüssen: Tod, Zerstörung, Angst. Doch zu welchen Entscheidung dies nun führen soll, wird mir leider nicht klar. Irgendwann versuche ich es gar nicht mehr, sondern genieße nur noch.

Obscure Noir
Die Pause vor der letzten Performance tat gut. Noch einmal den Kopf frei machen und sich wappnen für das, was kommen soll. Schon vom Thema her scheint sie komplexer zu sein, als die anderen: „Mein schwarzer tanzender Körper, der als eine politische Arena an und für sich dient […]“ heißt es im Ankündigungstext. Wie fühlen sich schwarze Menschen in einer weißen Gesellschaft? Trauma, Widerstand, Transformation, Befreiung. „Wie und wann wird der schwarze Körper frei sein, sich zu verstehen, wahrzunehmen und zu akzeptieren außerhalb des Terrains weißer Imagination?“ Mit dem Hintergrund eine Kritik schreiben zu müssen, bereitet es mir Unbehagen. Zu groß und zu politisch und dafür prädestiniert beim Schreiben in Fettnäpfchen zu treten. Auf die Umsetzung bin ich trotzdem mehr als gespannt. Und was ich in den 30 Minuten zu sehen bekomme, sprengt alle meine Erwartungen. Nicht nur das Thema der Performance ist komplexer, sondern auch die gesamte Ausführung. Videoinstallation, Musik, Lichteinsatz und natürlich Nasheeka Nedsreal – ich kann mich gar nicht entscheiden, auf was ich mich konzentrieren soll.
Es beginnt im Dunkeln, die Performerin betritt den Raum und ein Video wird an die Wand projiziert. Nacheinander blicken dunkelhäutige Menschen in die Kamera, man sieht nur ihre Gesichter, nichts wird gesagt. Dann eine Stimme aus dem Off. Sie erzählt davon, wie es ist als Dunkelhäutiger in einer Stadt wie Berlin. Es sprechen verschiedene Personen, Frauen und Männer, mal auf Deutsch, mal Englisch, mal Französisch. Ich frage mich sofort, ob es die Menschen aus dem Video sind oder vielleicht auch Nasheeka Nedreal. Diese hat schon längst begonnen sich auf der Tanzfläche im Dunkeln zu bewegen, doch ich achte hauptsächlich auf das Video und den Text. Es ist bedrückend, was man dort hört und es macht mich traurig und wütend, dass das immer noch die Realität ist, auch wenn mir das natürlich schon vorher bewusst war. Die Bewegungen der Tänzerin sind klar und geschmeidig und alles sieht so einfach für sie aus. Mit ihrem langen Beinen und dem schwarzen Kapuzenpulli hat sie etwas Spinnenartiges an sich. Nach einer intensiven Tanzsequenz mit dumpfer elektronischer Musik und Strobolicht, gibt es einen Bruch. Sie steht nun vor einem Spiegel in der linken Ecke des Raumes, betastet ihren Körper und betrachtet sich von allem Seiten. Clubmusik setzt ein und sie beginnt dazu zu tanzen. Sie wirkt wie ein junges Mädchen, das sich vor dem Ausgehen zuhause fertig macht und sich auf eine gute Party freut. Sie schminkt sich, sie scheint gut drauf zu sein, hat Spaß und fühlt sich wohl in ihrem Körper. Die Lieder wechseln schnell hintereinander, alles Clubmusik (sofern ich es beurteilen kann, von dunkelhäutigen Künstler*innen) und auch Nedsreal wechselt jedes Mal den Tanzstil, aber immer mit vielen Kurven und viel Hüftschwung. Sie zeigt den Zuschauer*innen, was für ein vielfältiges Bewegungsvokabular sie besitzt. Die Videoinstallation läuft auch wieder, die gleichen Gesichter, diesmal lachend und teilweise Ganzkörperaufnahmen, während sie tanzen. Sie sind glücklich, identifizieren sich mit ihrer Kultur. „I love being black!“ sagt eine der Stimmen, „schwarze Frauen sind unglaublich stark!“ eine andere. Es geht um den Stolz auf die eigene Herkunft, um die Gemeinschaft, um ihre Kultur. Das kann ihnen niemand nehmen. Ich bin froh, dass auch die positive Seite des Themas behandelt wurde und ich so begeistert und beeindruckt das ada-Studio verlassen kann, und nicht bedrückt und mit einer Wut auf die Gesellschaft. Natürlich habe ich den ersten Teil der Performance nicht vergessen und mir ist bewusst, wie real all das ist, doch für den Moment nehme ich nur die positive Energie und gute Laune mit nach draußen.
„Obscure Noir“ ist der krönende Abschluss des Abends. Fehlte mir bei den anderen Performances der Tanz bzw. Bewegung oder ein klar erkennbares Thema, so war hier alles perfekt. Zwar war ich anfangs skeptisch, wie man ein so komplexes Thema in einer Solo-Performance darstellen kann, aber Nasheeka Nedsreal hat dies auf beeindruckende Art und Weise geschafft. Es passte einfach alles zusammen.

 

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Verhältnisse von Raum und Mensch: Intimität, Expansion und Reflektionen von Frederic Kirchner

 

Inwiefern beeinflusst die Beschaffenheit des Raums das gesellschaftliche Zusammenleben? Und inwiefern prägt die eigene gesellschaftliche Position die Raumwahrnehmung? Anhand dieser Fragen ließen sich die drei Performances miteinander in Verbindung bringen, die in NAH DRAN extended: shifting views zu sehen waren. Jede von ihnen konzentrierte sich auf eine bestimmte Eigenschaft des Raums, sei es seine Begrenztheit, sein Potenzial oder seine - stets von Stereotypen begleitete - soziale Konnotation und sezierte somit Stück für Stück meinen Blick auf ihn. Ein interessanter, wie auch stellenweise unangenehmer Prozess.
Es beginnt mit völliger Stille. Ungewohnt dichter Stille. Die vereinzelten Gespräche unter den Zuschauenden vor der Aufführung kamen mir bereits nicht sonderlich laut vor, doch nun, da jedes Räuspern, jede Änderung der Sitzposition im ungefähr 40 Menschen umfassenden Publikum deutlich hörbar ist, wird mir erst die Geräuschkulisse bewusst, die zur Normalität meines Großstadtalltags geworden ist. Die beiden Performer*innen Manon Parent und Miriam Siebenstädt scheinen sie zu packen, abzuschalten und aufzuwickeln, wenn sie zu Beginn ihrer Aufführung mehrere Rettungsdecken, bestehend aus dünner, auf der einen Seite silbernen und auf der anderen Seite goldenen Folie zu Kugeln Formen und nebeneinander auf der Bühne anordnen, wo sie noch eine Weile vor sich hin knistern.
Das latente Unbehagen, das die Abwesenheit von Hintergrundmusik oder menschlichen Stimmen mit sich bringt, soll mich über die gesamte Dauer von „Solid Rock Interaction“ (Dramaturgie: Zwoisy Mears-Clarke) begleiten. Die beiden Performer*innen tragen Helme, Knie-, Ellenbogen- und Handschoner und Turnschuhe, weiße T-Shirts, schwarze Hosen. Sie erscheinen mir seltsam zerbrechlich unter all der Schutzkleidung, mit der sie unregelmäßige Klack-Laute erzeugen, wenn sie auf allen Vieren über den Boden krabbeln. Es sind die einzigen hörbaren Geräusche, außer einem gelegentlichen Räuspern, Husten oder Rascheln im Publikum, sowie einem seichten Regenplätschern vom Dach des Gebäudes. Parent und Siebenstädt rollen auch Metallkugeln hin und her, klopfen mit Steinen auf den Boden, oder schlagen eine Metallplatte an.
Aus dem Programmheft ging hervor, dass es in der Performance um ein soziales Moment von Kollision und Geräusch ginge und in der Tat kam es mir so vor, als präsentierten die Darsteller*innen Kollision als etwas, das gleichsam destruktiv und konstruktiv ist: destruktiv, da es mir schon nach kurzer Zeit schwerfällt, das monotone Klacken, Scharren und Rollen zu ertragen - erzeugt in meist quälend langsamen Bewegungen – und zugleich konstruktiv, da es von der Anwesenheit anderer Menschen und Objekte im Raum kündet. Ich bin nicht allein in der Stille. So entwerfen die Künstler*innen ein Bild eines begrenzten Raums, der Kollisionen unvermeidbar macht. Kollisionen, die durchaus positiv sind, da sie Orientierung ermöglichen und für das Vorhandensein des Anderen sensibilisieren. Trotz meiner Faszination bin ich erleichtert, als Parent und Siebenstädt sich nach 30 Minuten in die Augen blicken, (erleichtert, oder vielleicht zufrieden?) anlächeln und ihre Helme abnehmen. Das Abtasten der Oberfläche scheint abgeschlossen zu sein, das Tragen einer Schutzschicht nicht länger vonnöten.
Direkt im Anschluss vollzieht sich ein radikaler Wechsel: Shai Faran und Aya Steigman bewegen sich zunächst abwechselnd, gegen Ende der Performance auch gleichzeitig fließend zu einem Zusammenschnitt verschiedener Musikstücke. Es beginnt mit einer klassischen Suite von Händel und endet mit elektronischen Rhythmen, dabei erinnern die präzisen, auslaufenden Bewegungen der israelischen Tänzer*innen an den Gaga-Stil, der in ihrem Heimatland entwickelt wurde. Ihre durchtrainierten, den Raum auf die verschiedensten Arten durchquerenden Körper stehen in starkem Kontrast zu den dünnen, verletzlich wirkenden Körpern der vorherigen Performer*innen, die den Raum noch vorsichtig und langsam erkundeten.
Der Raum Farans und Steigmans erscheint als Raum der Freiheit, als offener Raum, den es zu erkunden gilt. Doch welche Stelle soll zuerst erkundet werden? Und wie? Beuge ich mich lediglich mit dem Oberkörper nach vorn und schaue zum Ort meines Interesses? Oder mache ich einen Schritt darauf zu? Vielleicht begnüge ich mich damit, mit einem Arm auf ihn zu zeigen, während ich den anderen Arm in die entgegengesetzte Richtung strecke? Oder ich vollführe all diese Bewegungen zugleich? Das Bewegungsrepertoire, das den Tänzer*innen zur Verfügung steht und eindrucksvoll von ihnen vorgestellt wird, erweist sich als Segen und Fluch, denn je mehr Bewegungsoptionen zur Verfügung stehen, desto schwerer mag es fallen, sich für eine von ihnen zu entscheiden. „Will we ever make up our minds…?“, der Titel der Performance, ist wohl nicht umsonst als offene Frage formuliert. Das abrupte Ende der Aufführung suggeriert mir, dass die Frage für Erste unbeantwortet bleiben wird.
Mir fällt gerade ein, dass ich noch gar kein Wort über das ada Studio verloren habe, wie ich es wahrnahm, als ich es an diesem Abend zum ersten Mal betreten habe: eine kubische Box, mit drei Sitzstufen vor dem ebenerdigen Bühnenraum, auf denen einige Kissen verteilt sind. Das gesamte Studio ist weiß, auch in sozialer Hinsicht, besteht doch die Mehrheit des Publikums an diesem Abend aus Weißen. In „Obscure Noir“ thematisiert Nasheeka Nedsreal das Leben als Schwarze in einer weißen Gesellschaft, in der der schwarze Körper mit ganz bestimmten, teils widersprüchlichen Klischees besetzt ist. Bereits im Kostüm der zierlichen Künstlerin lassen sich diese Widersprüche erkennen: Einerseits einen dicken, schwarzen Kapuzenpulli und andererseits, ebenfalls schwarze, Hotpants tragend, weckt ihr Körper Assoziationen zum Gangstertum wie auch zu einer Revue Josephine Bakers.
Im Laufe der nächsten halben Stunde werden, begleitet durch diverse Lichtstimmungen - von fast völliger Dunkelheit, über ein kräftiges Rot, zu einem voll erleuchteten Raum - sowie Projektionen von verschiedenen Schwarzen, die auf Deutsch, Englisch und Französisch über Diskriminierungs- und Empowerment-Erfahrungen erzählen, verschiedenste mit Schwarz gelabelte Tanzrichtungen demonstriert. Bewegungen beispielsweise aus Swing, Hip-Hop oder Modern Dance. Ich habe einerseits das Gefühl, das stereotype Vorstellungen „bedient“ werden, den weißen Erwartungen gewissermaßen Genüge getan wird, zugleich jedoch der offenbar kalkulierte - und exakt auf jede Änderung innerhalb der die Performance begleitenden Musik getimte - Wechsel des Tanzstils von einem hohen Maß an Selbst- und Fremdreflektion zeugt. Die Klischees werden bewusst präsentiert und als solche entlarvt. Während der durchweg virtuos ausgeführten Bewegungen spricht Nedsreal gelegentlich die innerhalb der Interviews oder eingespielten Lieder angebrachten Zitate mit. Schließlich sitzt sie mit dem Rücken zum Publikum vor einem Spiegel, den sie somit gleichermaßen sich selbst, wie auch mir vorhält, schminkt sich, tanzt dann wieder, und hält zuletzt Bücher in die Höhe, die offenbar von schwarzen Körpern in der Tanzwelt handeln (bspw. „Swing Time“ von Zadie Smith, oder “Black Skin, White Masks” von Frantz Fanon). Ein Verweis auf weitere Möglichkeiten, sich über das Thema zu informieren, am Ende einer Performance, die sich sowohl durch einen hohen Grad an Spannung als auch Information auszuzeichnen vermochte.
NAH DRAN extended: shifting views verhandelte höchst unterschiedliche Perspektiven auf das Verhältnis von Raum und Mensch, wobei sich über den Abend hinweg ein Wechsel von einer vordergründig konzeptbestimmten Bewegungsstudie, über eine Performance, in deren Fokus die technische Virtuosität ihrer Bewegungen zu stehen schien, bis hin zu einer intelligenten und energiegeladenen Sozialkritik vollzog.


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

ada Studio für zeitgenössischen Tanz

in den Uferstudios/Studio 7

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