Text zu NAH DRAN 55 (23./24. Januar 2016) von Johanna Withelm
Das Besondere der NAH DRAN-Ausgabe 55 war, dass sie alles andere als geplant verlief. Neben den Arbeiten von Nina Berclaz und Maria Walser sollten eigentlich Laura Keil & Ruslan Stepanov ihr
Duett Its looking like a castle if you don't look up zeigen. Wegen einer schweren Verletzung musste dieses Duett aber ausfallen und Gabi Beier schaffte es sehr kurzfristig, an Stelle
dessen das Choreographen-Duo bücking&kröger mit einer Improvisation zu gewinnen. Einen Ersatz kann man das vielleicht nicht nennen, eher eine spontane Änderung des Programms, auch wenn die
Improvisation nun fast den gleichen Titel trägt, wie die ursprünglich angesetzte Arbeit, was für manche ZuschauerInnen vielleicht Verwirrung gestiftet hat (und darin lag auch der Reiz). Begonnen
hat aber alles mit einer getanzten Hommage an die US-amerikanische Kultserie Twin Peaks : Die in Montpellier und London ausgebildete Tänzerin, Choreographin und Chorsängerin Nina
Berclaz präsentiert in Zusammenarbeit mit den TänzerInnen Esther Manon Siddiquie und Klaus Bitto ihr Stück Red, coffee and fog . Die drei PerformerInnen spielen drei Menschen, die
süchtig nach einer TV-Serie sind. „Was ist die Macht einer TV-Serie, und was kann uns so süchtig machen?“ fragen sie im Abendzettel. Am vorderen sowie hinteren Bühnenrand stehen jeweils ein
Hocker mit einem Laptop darauf. Der Bildschirm des hinteren Laptops ist für die Zuschauenden sichtbar, es laufen Szenen aus Twin Peaks , während der vordere Bildschirm dem Publikum den
Rücken kehrt und nur für die TänzerInnen sichtbar ist. Im Abendzettel bekomme ich auch gleich die Erklärung dafür: „Im Stück sind es nur die Darsteller, die die eigentlichen Bilder sehen. Diese
Bilder sind reduziert, wie aus einem fernen Gedächtnis, und für das Publikum reduziert durch die räumliche Entfernung.“ Die meiste Zeit schauen die TänzerInnen unaufhörlich wie gebannt auf den
Bildschirm und tanzen eine Choreographie dazu, meist synchron. Das Bewegungstempo ist die ganze Zeit gleichbleibend schnell, die Bewegungen hastig und impulsiv. Weit aufgerissene Augen, sich auf
den Boden duckende Körper, die sogleich schnell wieder aufstehen, rennen, den Arm in die Luft reißen, den Körper über den Boden fegen, das alles ist kraftvoll und pointiert. Ich lese weiter im
Abendzettel: Die rätselhaften Bewegungen sind obsessiv und dabei unergründlich“. Nun ja, grundsätzlich finde ich es etwas problematisch, wenn im Programm bereits festgestellt wird, wie die
Bewegung vermeintlich wirkt. Und auch sehe ich keine unergründlichen obsessiven Bewegungen, sondern drei TänzerInnen, die sich Mühe geben, das auf mich recht vertraut wirkende Bewegungsmaterial
obsessiv zu tanzen, weil sie eben eine Krimiserie vertanzen wollen, was ja ein Unterschied ist. Aber was soll eigentlich eine unergründliche Bewegung sein? Sind nicht alle Bewegungen irgendwie
unergründlich, genau so, wie sich alle Bewegungen irgendwie in einem komplexen System aus zeichenhaften Codes befinden, ob man das will oder nicht? Das nur am Rande. Das energische und zuweil
eben auch „ausgestellte“ Bewegungsmaterial (Extremitäten in die Luft reißen, krampfende Finger, etc.) und der insgesamt expressive Habitus der TänzerInnen erinnert mich an Tanztheaterströmungen
der 1980er Jahre, wie zu der Zeit von Pina Bausch oder Anna Teresa de Keersmaeker angeführt. Und auch das Bühnensetting mit Requisiten wie ein großer Perserteppich oder die Kostüme (Abendkleidung
in tiefrot und schwarz), aber auch der schauspielerische Gestus wie das Ducken/Rennen und die stark betonte Mimik der TänzerInnen schreien nach Theater. Das alles wirkt auf mich wie ein
vertanztes Kriminalstück von vor 30 Jahren. Nun stammt Twin Peaks ja auch aus einer vergangenen Zeit, insofern passt das, übrigens auch in Kombination mit der von Benedikt Schiefer
arrangierten Musik, die immer wieder Zitate aus dem bekannten Twin Peaks-Soundtrack enthielt. Der Versuch, diese gewisse neblige Twin Peaks-Ästhetik aus dem Jahr 1990 umzusetzen, ist somit auch
gelungen, jedoch wirkt diese choreographische Umsetzung einer mittlerweile 26 Jahre alten TV-Serie mit Kultstatus auf der Bühne eben etwas verstaubt. Red, coffee and fog ist ein gut
funktionierendes Bedeutungssystem, in dem alles seine Entsprechung findet, was man sogar im Abendzettel nachlesen kann, abseits davon gibt es dann aber wenig Interessantes zu entdecken.
Das zweite Stück hätte nun It's looking like a castle if you don't look up von Laura Keil und Ruslan Stepanov sein sollen, stattdessen betreten die Berliner TänzerchoreografInnen Raisa
Kröger und Florian Bücking (zusammen: bücking&kröger ) den Raum. Bekleidet mit Trainingshosen und T-Shirts mit der Aufschrift „I'm not Ruslan“ bzw. „I'm not Laura“ und zur Decke
schauend („look up“), verweisen sie erst einmal in charmanter Weise auf die entfallene Arbeit und ihre eigene improvisierte Rolle an diesem Abend und stellen damit auch Fragen über Autorschaft
und Originalität in den Raum. Zur Decke schauend blinzeln sie zunächst unaufhörlich mit den Augen, jedoch ist es kein rhythmisches Blinzeln, kein Flattern der Augenlider, sondern ein abgehacktes
und oft unterbrochenes Zusammenkneifen der Augen, was zunächst so wirkt, als hätte da jemand was im Auge. Langsam senken beide den Kopf, so dass die Augen in Richtung Zuschauerraum gerichtet
sind, und das angestrengte Blinzeln führt zu einer Reihe von merkwürdig entrückten Variationen von schielenden Augen, zuckender Kiefermuskulatur, debilen Gesichtsausdrücken. Dazu mischt sich eine
nur leicht gekrümmte Körperhaltung mit nach vorne gebeugten Schultern und erzeugt zusammen mit der seltsamen Augenaktivität ein leicht verschrobenes Körperbild. Die Arme beginnen sich zögernd zu
bewegen, gleiten ein wenig in die Luft, um dann wieder nach unten zu sinken, eine unentschiedene Kontaktaufnahme der beiden Körper findet ab und an durch die Berührung der Arme statt.
Vogelgezwitscher gleitet in den Raum, das Blinzeln wird langsam weniger und die beiden Körper stehen sich eine lange Zeit gegenüber, bevor sie anfangen, sich diagonal durch den Raum
fortzubewegen, aufeinander abzulegen und abzustützen, auf den Knien zu rutschen, sich flink durch die Ebenen des Raums zu bewegen. Die eigentümliche Bewegungsqualität der Beiden besteht dabei vor
allem in den immer wieder fein organisierten Wechseln zwischen organischem Fluss und unterbrechenden Stops, zwischen körperlicher Schwere und flinker Leichtigkeit, Boden und Luft, Posen und
Fluss. Die Bewegungsvariationen bestechen durch das abwechslungsreiche Material und die Vielfalt im Einsatz von Körperteilen sowie die erfrischende Abwechslung von Tempi und Dynamiken. Die
Bewegungsqualitäten in den beiden Körpern sind dabei nicht immer identisch, aber doch leise aufeinander abgestimmt. Diese präzise Abstimmung und der spannende Einsatz von verschiedenstem
Bewegungsmaterial und -qualitäten sind es, die diese Improvisation interessant machen. Ein oft hervorblitzendes Element sind herausschießende Finger und trippelnde Hüpfschritte, die zum einen auf
das zu hörende Vogelgezwitscher rekurrieren und zum anderen aber auch wie schon zu Anfang durch das Blinzeln der Augen eine subtile, manchmal vielleicht unfreiwillige Komik hervorbringen. Es
scheint unter dieser physischen Bewegungsarbeit stellenweise eine leise Ironie durch, wenn die Körper sich kurz in skurrile Bilder wie Grimassen-ähnliche Finger vor dem Gesicht oder an Kitsch
erinnernde Posen mit erhobener Brust und elegant arrangierten Armen begeben, um sich sogleich schnell und unmerklich wieder aufzulösen. Die Haltung der beiden ist dabei während der gesamten
Improvisation recht trocken, unemotional und wenig erzählend, wie man es sonst vielleicht auch von Ansätzen her kennt, die wenig mit Körperbewegung arbeiten. Das Besondere, weil Seltene liegt
hier aber in der Kombination von unaufgeregtem Habitus, der sich jeglichen Bedeutungszuweisungen entzieht und der präzise gearbeiteten (in diesem Fall improvisierten) Körperbewegung. Gespannt
sein darf man in jedem Fall auf das erste abendfüllende Stück von bücking&kröger, das Anfang März im Dock 11 stattfinden wird!
Es geht weiter mit der Tänzerin und Schauspielerin Maria Walser, die ihr Solo Als wäre ein wahnsinnig schöner Gedanke dahinter präsentiert, eine Weiterentwicklung einer Studie, die
sie bereits bei 10 times 6 im November vergangenen Jahres gezeigt hat und die beim Publikum (inklusive mir) schon auf Begeisterung stieß. Den Anfang des Solos kannte ich also schon, wie
Maria Walser mit zwei Stühlen hereinpoltert und plötzlich übertrieben extrovertierte Bewegungen aus ihr heraus explodieren, sie durch den Raum stürmt, bis sie in unvorteilhafter Pose abrupt
anhält und in privatem Erzählstil ihren großartigen Vortrag beginnt: „Ähm, ich weiß gar nicht, wieviel ich jetzt eigentlich sagen muss“, so lautete der erste Satz ihrer Erzählung, die von nun an
den Rest ihres Solos begleitet. Wie sie uns mit selbstironischer Attitüde erklärt, dass sie ja schon weiß, dass der Stuhl ein Stuhl ist, dass sie sie ist und wir wir, dass sie nun aber weiter
fortfahren muss, und dass ja auch alles irgendwie weitergehen muss. Oder wie sie irgendwann, umständlich die Extremitäten über einen Stuhl gestülpt, den sie zuvor mit einem Seil mit dem anderen
Stuhl verknotet hat, betont nachdenklich und abrupt von deutsch auf englisch schwenkt: „Maybe I should speak english. For the understanding. Although it is really not about understanding....“ Wie
sie sich entschuldigt, dass diese Sache jetzt hier nicht besonders schön aussieht, während sie angestrengt ruckartig, verhakt in zwei verknoteten Stühlen, sich samt Stuhl vom Platz bewegt. Maria
Walser, die sich in diesem Stück mit der Suche nach Lücken für die Nichtrealitäten von Tatsachen befasst, erzählt von ihrem inneren Kampf mit den Strukturen der Welt, mit der existierenden
Realität der sie umgebenden Dinge („Ich kann mir es nicht vorstellen, das Nichts“) – und tut dies mit erfrischendem Humor und selbstironischer Haltung. Der alles umschreibende Begriff „Hä?“ wird
hier zur Basis einer kraftvollen, uneitlen und entrückten Bewegungs- und Stimmimprovisation gemacht und dann sagt Maria Walser noch, dass es ja wohl das Schlimmste wäre, wenn jetzt plötzlich
irgendeine Musik reinkommen würde. Gegen Ende erzählt sie dann wie erleuchtet, dass sie langsam das Gefühl hätte, „dass wir nirgendwo hingelangen, während alles weitergeht, und dass wir keine
Musik brauchen, denn in dieser Stille kommt Alles oder Nichts.“ Und tatsächlich erklingt dann eine wunderschön anmutende Pianoversion des sozialistischen Freiheitslieds „El pueblo unido“, zu der
sie erst erschrocken und zögernd, dann stürmisch und ausufernd tanzt, zwischendurch nochmal halb angestrengt, halb kichernd dem Publikum sagt, dass das jetzt wirklich schwierig für sie sei, aber
auch „so Spaß macht!“ Maria Walser schafft es, trotz der humorvollen Selbstironie in ihrer Darstellung, das eigentliche Thema und dessen Ernsthaftigkeit nicht zu korrumpieren. Dazu kommt ein
selbstreferentieller Ansatz, mit dem Walser nicht nur sich selbst und ihre künstlerische Arbeit, sondern auch den ganzen großen zeichenhaften Klotz namens Theater reflektiert („es wäre ja wohl
schlimm, wenn jetzt irgendeine Musik reinkommen würde“). Somit ist es ihr gelungen, ein großes und schweres Thema mit Leichtigkeit zu verhandeln, dessen letzte große Frage natürlich nach wie vor
stellvertretend für wohl so ziemlich alle Fragen in dieser Welt steht: „Was für eine Rolle spiele ich überhaupt in diesem Kosmos?“