Text zu 10 times 6 (21./22. Mai 2016) von Johanna Withelm

 

 

„10 times 6” ist mein liebstes ada-Format: 10 Stücke á sechs Minuten, alle anders und alles immer viel. Viele schnelle Eindrücke und ein bunter Überschuss von allem, diesmal verpackt in sechs Soli, drei Duette und ein Trio:
Den Anfang machen Manon Parent & Pascal Parent mit Solid Rock Interaction Study #1. Manon Parent begibt sich mit Alltagskleidung, Knie- und Ellenbogenschützern sowie Fahrradhelm auf die Bühne und fällt vornüber mit einem Knall auf den Boden. Es folgt eine Art Körper-Klang-Choreographie, hergestellt durch die Töne des Aufschlagens von Helm/Knieschoner/Ellenbogenschoner auf dem Boden oder der Wand, Manon Parent robbt damit quer durch den Raum. Kombiniert werden diese durch Bewegung hervorgerufenen Klänge mit einer aus dem Off zu hörenden rhythmischen Struktur des Schlagzeugers Pascal Parent – es kommt hier zu einem Dialog zwischen musikalischer und physischer Partitur, die auch die Interaktion zwischen visueller und akustischer Wahrnehmung der Zuschauenden aktiviert. Manon & Pascal Parent, Vater und Tochter, sie Tänzerin, Choreographin und klassisch ausgebildete Violinistin, er Schlagzeuger, beschreiben die hier präsentierte Arbeit als „ein Körper-Ohr, ein Körper-Instrument und eine musikorientierte Körperpartitur“. Eine interessante Studie, die einen Dialog zwischen den jeweiligen Praktiken anstrebt und diesen für die Zuschauenden sinnlich erfahrbar macht.
Das zweite Stück heißt The piece is about und stammt von der finnischen Tänzerin und Choreographin Assi Pakkanen, ausgebildet an der Ballettakademie Stockholm. Ihre Bewegungen sind fließend, organisch und zugleich kleinteilig und präzise. Sie erinnern mich an quallen- oder fischartige Wesen, die sich zusammen- und auseinanderziehen, flink, wendig und elastisch. Sie spricht Sätze, die beginnen mit „The piece is about...“, es folgen Begriffe wie „unskilled desires“, „me and not me“, „unpoetry“ und „pieceofcake“, sie sinkt dabei in den Boden, dreht sich blitzartig, verlässt dabei oft ihre Körperachse, landet weich, lässt Extremitäten aus dem Rumpf herausschießen und wieder hineinrollen, körperinnerliche Eruptionen durchwirken ihre Bewegungen, Impulsivität und Weichheit stehen hier nebeneinander. Dazu ein perkussiver und zugleich zart-psychedelischer Sound und warmes Licht. Assi Pakkanen, definitiv eine tolle Tänzerin, hat mit dem gesprochenen Text auch einen selbstreflexiven Rahmen geschaffen: Auf einer Meta-Ebene erklärt sie im Stück, „worum es im Stück geht“, sie berührt damit Aspekte der Diskursivität (wie spreche ich über meine Arbeit?) und betont vor allem das Prekäre einer jeden Interpretation (wie funktioniert Bedeutungszuschreibung beim Zuschauen von Tanz?). Spannend zum Zuschauen.
Weiter geht es mit LL von Philipp Enders, Literaturwissenschaftler und Choreograph, ausgebildet am HZT Berlin. Ich merke, dass ich es sofort erfrischend finde, mal wieder einen Mann auf der Bühne zu sehen, Männer waren in letzter Zeit eher rar im ada Studio. Enders beginnt mit einer Art einleitendem Prolog, in dem er über Worte spricht, und darüber, inwiefern ausgesprochene Worte nicht nur das repräsentieren, was jemand denkt, sondern vor allem wie jemand denkt. Er spricht das mit einer angenehm weichen Stimme, langsam und deutlich, ich höre ihm gern zu. Beschäftigt hat Enders sich in dieser Arbeit mit Diktion und Poetik von Sprache, Ausgangsmaterial bildet eine Rede von Shireen Patell, aus der im Laufe des Stücks immer wieder Fragmente aus dem Off abgespielt werden, während Enders sich bewegt. Seine Bewegungen bilden (zum Teil geometrische) Formen im Raum, die reduzierte Dynamik und die neutrale alltägliche Attitüde erinnern mich an Ästhetiken des amerikanischen Postmodern Dance. Philipp Enders' Körper bringt Schwünge, Formen, Kreise hervor, die Bewegungsausführung ist klar und präzise, das formnahe Material immer wieder gespickt mit schnellen Rebounds, Drops, Drehungen. Das Bewegungsmaterial und dessen Bezugsetzung zu Sprache sowie die interessante Präsenz des Performenden machen das Zuschauen zu einem angenehmen und spannenden Erlebnis.
Nummer Vier ist das Solo Federlicht von Caroline Alves und Olga Ramirez Oferil, wobei Caroline Alves, brasilianische Tänzerin und Choreographin, die Regie geführt hat und Olga Ramirez Oferil, katalanische Tänzerin, Performende ist. Sie beginnt auf dem Boden liegend, das Gesicht zum Boden gerichtet und die Hände hexenartig krallend. Sie biegt und krümmt ihren Körper, bewegt sich dabei am Boden fort wie ein Reptil, um sich schließlich aufzurichten. Bibbernd-vibrierende Konvulsionen durchfahren ihren Körper, bevor sie sich in die hintere rechte Ecke des Raums stellt und eine Bewegungssequenz von geschleuderten Armen und durchgebogenem Rücken mehrfach wiederholt. Ein Element dieser Sequenz ist das Umdrehen des Kopfs, das irgendwann den Impuls für ein abgehacktes Lachen bildet, das aus Ramirez Oferils Mund kommt. Dieses künstlich evozierte Lachen stößt bei mir zunächst auf Ablehnung, dann jedoch stellt sie sich in die Mitte, schaut uns direkt an und dieses Lachen wird immer ausladender und tatsächlich irgendwann glaubwürdig, und dann gibt es diesen Reflex, dass man einfach mitlachen muss. Als Olga Ramirez Oferil ihr Lachen abrupt beendet und eine 'Düp-di-düp-la-la'-klingende Musik erschallt, rutscht ihr Körper süffisant auf den Boden in eine sitzende Position, dazu ein Lichtfade ins Black. Eine humorvolle Bewegungs- und Stimmrecherche, die sich mit einem poetischen Körper beschäftigt, der sich mit befremdlichen Gefühlen auseinandersetzt. Dem Applaus nach zu urteilen war dieses Solo auch eindeutig der Publikumsliebling.
Das letzte Stück vor der Pause ist wieder ein Solo, stammt von dem irakischen Tänzer Akiles und trägt den Titel The Parallel Side of the Road. Eine Schale mit Räucherstäbchen erfüllt den Raum mit Duft und Akiles, dessen Name eigentlich Muhamed Al-Agaili ist, kommt herein, er trägt eine 'Haremshose' und ein weißes Oberteil, dazu sorgen ein warmes Licht und „orientalisch“ klingende Musik für ein rundes einheitliches Setting. Akiles beginnt in einem eher klassischen Präsentationsmodus zu tanzen, sorgsam führt er eine Sequenz nach der anderen aus. Viel mehr passiert dann auch nicht, aber aus irgendeinem Grund hege ich von Anfang an Sympathie für den Performenden. Dieser Moment der Identifikation, der manchmal einfach passiert und manchmal eben nicht. Akiles beschäftigt sich hier laut Abendzettel mit Ritualen im zeitgenössischem Tanz und rekurriert auf Körperbewegungen und symbolische Gesten während des Gebets und spiritueller Feste. Es fragt sich für die Zuschauenden vielleicht, ob das interessant sein kann, wenn jemand in einem 'ritualhaften' Setting auch noch 'ritualhafte' Bewegungen ausführt und es innerhalb der Präsentation weder Brüche noch Ironie zu geben scheint. Das Interessante aber ist, dass ich die ganze Zeit Graham-Contractions, Limon-Schwünge, und andere Modern Dance-Elemente gesehen habe anstatt die von mir eigentlich erwarteten ornamentalen Bewegungsabläufe (auch das wahrscheinlich ein Klischee!), und das habe ich sehr wohl als einen interessanten Bruch empfunden. Was zum Einen wieder mal zeigt, dass das Zuschauen vor allem mit eigenen vorgeprägten Ideen zusammenhängt, und zum Anderen, dass unsere westlich geprägte Vorstellung von Tanz, Performance und Diskurs eben nicht die einzige Realität auf dieser Welt ist. Allein schon deswegen empfinde ich „The Parallel Side of the Road“ als Bereicherung für diesen Abend.
Nach der Pause geht es dann weiter mit der Choreographin Emma Tricard, ehemals Studierende am HZT Berlin, die ihr Solo ODD zeigt. Im Publikum sitzend, fängt sie an zu sprechen, sie erzählt von jemandem, einer Sie, die den Raum betritt, Emma Tricard schaut dabei in den Raum, als ob da jemand stehen würde. Sie steht auf und erzählt weiter von ihr, wie sie aussieht, wie sie uns anschaut, wie sie eine 'fröhliche' Bewegung macht, in die Luft springt, und viel mehr. Zwischendurch verzerrt Tricard ihre Stimme, gerät in künstliches Lachen, dann erzählt sie, wie sie sich auf den nun leeren Stuhl setzt und in den Stuhl hinein sinkt. Ein Spiel also mit subjektiven imaginären Prozessen (wie kann eine fröhliche Bewegung aussehen? Wie sieht sie aus?), Deutungsmustern und Verwirrung, das mich als Zuschauende aber auch an der langen Leine lassen möchte. Wunderbar springt mich jedoch das Ende an, wenn Emma Tricard überrrascht den Kopf wendet, und leise „Oh!“ sagt, woraufhin das Licht ausgeht. Es ist, als ob mir in diesem Moment alles klar wird.
Weiter macht die in Belgien und Holland ausgebildete Tänzerchoreographin Véronique Langlott mit dem Solo Lyrical Ping Pong: ein sympathisches Stück, das sich ebenfalls mit Sprache und Bewegung beschäftigt. Véronique Langlott geht im Kreis und spricht Worte aus wie: „Rhythmus“, „Sprung“, „Klang“, „Inhalt“, zwischendurch hört sie auf zu gehen und nimmt Posen ein, ihre Bewegungen bilden Formen im Raum. Sie spielt mit dem Aussprechen von Worten („Brom-brom-brom-brom-brombeere“), es folgen Sprünge und dynamische Bewegungsabfolgen, das angenehm Reduzierte in der Bewegung bleibt trotzdem. Véronique Langlotts hat eine zarte, aber auch klare und feste Präsenz und Stimme – sie sagt „Rhythmus. Hab ich nicht“ und „Klang. Hab ich nur zum Teil“, ein Kichern im Publikum, dann nimmt sie eine entrückte Pose mit über dem Kopf eingerollten Armen ein und sagt: „Diese Pose macht etwas mit mir. Sie gibt mir das Gefühl von einem Elch“, dann verändern sich ihre Bewegungen, werden irgendwie 'elchig'. Es macht Spaß , Véronique Langlott zuzuschauen, deren choreographische Struktur ich nicht durchschaue (laut Abendzettel eine Komposition aus drei verschiedenen Übersetzungsansätzen eines Gedichts, die mit der Struktur der Verse, dem Klang der gelesenen Lyrik und mit assoziativen Bilder zur Bedeutung einzelner Wörter arbeiten), die mich aber trotzdem, oder gerade deshalb interessiert.
Nummer acht ist das einzige Trio diesen Abends, bestehend aus den Tänzerinnen Jenny Haack, Akemi Nagao und dem Kontrabassisten Adam Pultz Melbye, die eine Improvisation zeigen, die den Dialog zwischen Bewegung und Klang erforscht. Diese Arbeit sticht in ihrem Minimalismus heute Abend heraus. Die drei stehen im Raum und das meiste, woran ich mich erinnern kann, ist Stille. Die Klänge vom Kontrabass sind rar, ebenso die Bewegungen der Tänzerinnen. Zwischen einzelnen Klängen und Bewegungen entstehen teilweise so lange Pausen, dass der Grad zwischen Konzentration und Irritation unter den Zuschauenden auch mal überschritten wird. Ich denke währenddessen, dass ich es mutig finde, sich trotz des kurzen Zeitrahmens von sechs Minuten zum Pausieren und Innehalten zu bekennen. Ich habe auch das Gefühl, dass ich durch die Ruhe und Konzentration im Raum einzelne Bewegungen und Klänge intensiver wahrnehmen und mehr wertschätzen kann. Ich warte noch auf etwas. Als am Ende das Licht ausfadet, streifen unmittelbar vor den ersten Publikumsreihen noch Akemi Nagaos flink flirrende Finger durch die Luft, um dann ins Dunkel zu gleiten, wunderschön.
Das vorletzte Stück Hysteron stammt von dem portugiesischen Bildenden Künstler und Performer André Uerba und ist ein Duett zwischen ihm und dem argentinischen Tänzer/Choreografen Alejandro Karasik, der hier präsentierte Ausschnitt gehört zu einer Recherche, die sich mit Hysterie beschäftigt. Uerba und Karasik kommen Händchen haltend mit trippelnden Schritten in den Raum, es ist dunkel, man sieht zunächst nur ihre Silhouette, dazu ein unheimlich anmutender Sound. Als die Beiden sich umdrehen, kommen ihre riesigen aufgepumpten Plastikmünder zum Vorschein, ein leicht abstoßender Anblick. Ein schwacher Lichtkegel fährt wie ein Pendel von Seite zu Seite und Uerba und Karasik wenden zeitlich synchron ihren Kopf von Seite zu Seite, umarmen sich wie zwei Roboter, rollen langsam in der Umarmung über den Boden, richten sich wieder auf, dann wieder die synchronen Trippelschritte. Der sphärische Sound, die Dunkelheit, die grässlichen Münder und entrückten Performer erzeugen insgesamt eine gruselige Atmosphäre, viel mehr passiert nicht, na gut.
Das letzte Stück Photographic Portraits ist ein Duett und stammt von der italienischen Tänzerin Luana Rossetti (Noas Cie.) Dieses Duett, getanzt von Luana Rossetti und Giovanna Cento, hat mich irgendwie fertiggemacht. Ob im positiven oder negativen Sinn ist hier die Frage. Es handelt sich um eines dieser typischen (etwas in die Jahre gekommenen) Hassliebe-Duette, das zwischen dramatisch präsentierter Wut sowie Zuneigung zwischen zwei TänzerInnen oszilliert. Die fragwürdige Ästhetik (schwarzer Fetzen-Look, anstrengender House-Sound und kitschige Piano-Klänge) und die dramatischen Gesten wie 'an den Haaren ziehen' und 'sich gegenseitig den Mund zuhalten' tun ihr übriges. Und dennoch mag ich die beiden Tänzerinnen auf Anhieb. Sie schaffen es mit ihrem impulsiven Tanz, mich irgendwie eigenkörperlich zu dynamisieren, ich spüre beim Zuschauen fast einen muskulären Nachvollzug ihrer Bewegungen. Beide sind hervorragende Tänzerinnen, die virtuos und kraftvoll in den Raum gehen, in den Boden fallen, ihr Gewicht als Initiator von wuchtartigem und doch präzisem Schwung einsetzen, wie energetisiert durch den Raum wirbeln, ich hätte noch viel länger zuschauen können. Und ja, ich mochte auch das Bekennen zum Kitsch, gerade hier in diesem Kontext und im Kontrast zu den anderen Arbeiten. Ein überraschendes, aber doch perfektes Ende diesen Abends.


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