Text zu S.o.S. - Students on Stage (7./8. Mai 2016) von Johanna Withelm

 

 

Nun ist es wieder so weit: Die diesjährige Ausgabe von „S.o.S.” – Students on Stage wird zum zweiten Mal in Folge von meinen Kolleginnen und Freundinnen Cilgia Gadola & Alex Hennig kuratiert – und darüber schreiben zu können freut mich noch mehr als sonst. Gezeigt werden in diesem Jahr Stücke von Schülerinnen der privaten Tanzschulen (Tanzakademie balance 1, DANCEWORKS berlin und ETAGE – Schule für die darstellenden und bildenden Künste) und einer Studentin des Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) sowie eine Performance von Studierenden der Tanzwissenschaft (FU Berlin).
Mein besonderer Zugang zu dieser Veranstaltung lässt sich wohl kaum verleugnen: 2015 war ich selbst Mitglied des „S.o.S.”-Kuratorinnen-Teams, bin also dem Format und den Kuratorinnen irgendwie besonders verbunden, außerdem war ich auch mal balance 1-Absolventin (lange her), und Tanzwissenschaft-Studierende (nicht so lange her, immer noch mit der Masterarbeit beschäftigt). Also auch ein merkwürdiges Erinnerungskarussell ist das hier. Und ungewohnt zu erleben, wie diese unterschiedlichen Welten, die sich in meiner Biographie verbinden, aber die sonst eher wenig bis gar nichts miteinander zu tun haben, hier mal konkret miteinander verknüpft werden.

Auch im ada Studio herrscht irgendwie eine besondere Festivalatmosphäre: Die Besucher*innen stehen im Hof der Uferstudios in Grüppchen, die Luft ist sommerlich lau, und dann wird das Bühnenprogramm großartigerweise draußen eröffnet: Melanie Widmann, ausgebildet an der ETAGE – Schule für die darstellenden und bildenden Künste zeigt draußen ihr Solo EijnAni, welches auch ihre diesjährige Abschlussarbeit der Bühnentanzausbildung ist. Es beginnt eindrucksvoll mit einem Haufen Erde auf dem Boden, der anfängt sich zu bewegen: Der Erdhaufen wölbt sich, zieht sich wieder zusammen, scheint zu atmen. Dann blitzen helle Stellen aus der Erde hervor: Körperstellen schauen heraus, jedoch ist es in den ersten Sekunden teilweise nicht zu erkennen, um welches Körperteil es sich da genau handelt. Ein spannender Effekt, der meinen Blick herausfordert, weil hier die Erscheinungsform des Körpers verzerrt und sogleich in Frage gestellt wird. Gerne hätte ich diesem wabernden Körper-Erde-Gebilde noch länger zugeschaut. Da kommt ein Kopf mit Haaren zum Vorschein, Extremitäten ragen heraus und knoten sich um den Rumpf. Nach und nach strecken sich Arme und Beine mehr vom Oberkörper ab, Melanie Widmann richtet sich auf und damit folgt ein Wechsel ins Narrative: das Erdwesen befreit sich und es kommt zur Auferstehung, oder so ähnlich. Den Oberkörper entblößt, mit einem hautfarbenen Slip bekleidet und mit Resten von Erde am Körper beginnt sie sich rastlos zu bewegen, ich muss an einen Befreiungsakt denken. Diese Erzählung einer Befreiung, Auferstehung oder Ähnliches wird mit einer melodisch treibenden Musik untermalt und dabei im Verlauf mehr und mehr in eine „tänzerische“ Form gepackt, die ich gar nicht gebraucht hätte. Gemessen an der Tatsache, dass diese Art von Solo für eine Abschlussarbeit einer solchen Ausbildung (in der in erster Linie tänzerische Technik gelehrt wird), wahrscheinlich eher nicht dem Mainstream entspricht, denke ich, dass das hier ein sehr persönliche und mutige Arbeit ist, die auch für die Zuschauenden spannende Ansätze zum Weiterdenken bietet.
Weiter geht es drinnen im Studio mit dem Solo Redirected von Zoe Bohsung, ebenfalls Auszubildende in der ETAGE. Sie betritt mit einem kurzen schwarzen Overall bekleidet den Raum, und dann beginnt ihr Tanz, der von einer angenehm weichen und fließenden Bewegungsqualität zeugt, technisch sauber ist und dessen grundsolides Material vor allem von den zeitgenössischen Klassen im Lauf der Ausbildung geprägt worden zu sein scheint. Was ich beim Zuschauen sehr begrüße, ist die unaufgeregte Haltung von Zoe Bohsung zu diesem Material. Ihr entspannter und offener Gesichtsausdruck sowie die gesamte Tänzer-Attitüde zeugt von einem Understatement, das sofort meine Sympathie erweckt. Es mag vielleicht Stimmen geben, die sich fragen, was an einer schönen Frau, die schön angezogen ist und zu einer schönen Musik auch noch schön tanzt, interessant ist? Und wo ist der Diskurs? Jedoch denke ich, dass die Stärke dieser Arbeit gerade darin liegt, nicht mehr zu wollen als das, was es ist: eine harmonische Komposition von Bewegung, Körper, Raum, Musik. Und ja: es war schön!
Als nächstes sehen wir das Stück Where is Rufus von Stephanie Zaharova, Ausbildungsschülerin bei DANCEWORKS berlin. Fünf Tänzerinnen betreten den Raum, gekleidet in beige- und erdfarbenen Kostümen und auf dem Kopf eine Art hautfarbene eng anliegende Badekappe, die die Haare verdeckt und die Tänzerinnen zugleich etwas entpersonifiziert. Was dann folgt, ist eine komplexe Gruppenchoreographie, die mit einer Vielzahl von Formationen, Raumanordnungen und präzisem Timing arbeitet und mich ästhetisch etwas an neoklassischen Tanz erinnert. Zunächst ohne Musik, jagen sich die Tänzerinnen durch ein sich transformierendes geometrisches Raum-Körper-Gefüge mit einem immer wieder wechselndes Verhältnis zwischen einzelnem Körper und (Körper-)Gruppe. Der etwas angestrengte Präsentationsmodus der Tanzenden strengt mich beim Zuschauen zugegebenermaßen auch an, und als dann auch noch die vier Jahreszeiten von Vivaldi zur nunmehr synchronen Tanzformation erklingen, muss ich schlucken vor zu viel Pathos. Was mir aber gleichzeitig auffällt, ist eine erstaunlich präzise Herausstellung von unterschiedlichen Qualitäten in der Bewegung, deren Konstellation immer wieder Brüche herstellt und das Zuschauen interessant macht. Die schnellen und vielzähligen Wechsel im Material, das sowohl schwer in den Boden geht, als auch scharf nach oben schießen kann, das weiche sowie entrückte Qualitäten zulässt, und das Spiel mit Dynamiken und Raumebenen sind es, die diese Arbeit interessant machen.
Das letzte Stück vor der Pause stammt von Marlene Naumann, Ausbildungsschülerin der Tanzakademie balance 1 und trägt den ambitionierten Titel Sei meine Prinzessin. Mein Kuss wird dich befreien. Gib mir deine Hand und du musst nie wieder traurig sein. Auch hier fünf Tänzerinnen, die mit elfenhaften langen Kleidern in verschiedenen rosé- und rot-Abstufungen in den Raum hineinschleichen. Die Tänzerinnen sprechen feenhafte Sätze, die ich nicht mehr genau erinnere, aber die wohl einen verträumt-devoten Inhalt hatten, und es wird auch gesungen und sich zwischendurch im Schreien verausgabt. Dieses Stück will sehr viel: mit Pantomime, Sprache, Gesang, Bewegung soll uns etwas vermittelt werden: „Die Prinzessin will nicht mehr artig sein“ ist dabei der Grundtenor, den ich zu spüren meine. Auch wenn ich mit dieser Dringlichkeit, die die Zuschauenden so vehement anspringt, meine Probleme habe, entdecke ich zwischendurch auch kleine Bewegungssequenzen, die von leichter, fluffiger Qualität sind, denen ich gern zuschaue und die mich (wahrscheinlich auch wegen der Kleider) an eine Pina Bausch-Ästhetik erinnern. Dann gibt es einen Wechsel, als plötzlich Techno-Sound erklingt, die Tänzerinnen sich die Kleider vom Leib reißen und sich in Unterwäsche bekleidet ekstatisch pulsierenden Bewegungen hingeben, den Körper durchschütteln. Diesen Ekstase-Ansatz, das 'Aus-sich-Heraustreten' finde ich spannend und das könnte für meine Begriffe ruhig noch ausgiebiger und exzessiver vollzogen werden, wozu ich an dieser Stelle mal ermutigen möchte. Auf den Bäuchen der Frauen steht dann jeweils ein Wort geschrieben, insgesamt ergibt es den Satz „Ich bin doch nicht echt“ oder wahlweise „Ich bin nicht echt. Doch.“, der auf das Thema des Stücks rekurriert, das sich mit „echt sein“ auseinandersetzt. Im Abendzettel wird behauptet, dass wir in einer Plastikwelt leben, „in der nichts echt ist“. Da drängt sich mir sofort die Frage auf, ob die Vorstellung eines universellen Echtheitsbegriffs nicht spätestens seit der Postmoderne ohnehin obsolet geworden ist, also ob diese Schlacht, in die sich das Stück begibt, nicht eh schon gewonnen ist? Insofern würde ich Marlene Naumann selbstverständlich Recht geben, wenn sie sagt: Nichts auf dieser Welt ist „echt“.
Nun beginnt die Pause und die Zuschauenden sind eingeladen, sich dem Projekt Stücke sehen – Ein Instant-Atlas der Tanzwissenschaftstudierenden Agnes Kern & Valentin Schmehl zu widmen. Dieses Projekt nähert sich den an diesem Abend präsentierten Stücken aus tanzwissenschaftlicher Sicht. Eine wie auch immer geartete Reflexion der präsentierten Stücke gab es bei „S.o.S.” im ada Studio noch nicht und ist damit ziemlich bahnbrechend sowie ein tolles Angebot für die Zuschauenden und die die Künstler*innen. Agnes Kern und Valentin Schmehl haben sich die Stücke teilweise in der Generalprobe, und auch während der Vorstellung angeschaut. Sie haben danach augenblicklich eine intuitive Bild- und Textcollage geschaffen, die man sich auf einem großen Poster im Foyer anschauen kann, und die deshalb „instant“ ist, weil sie sofort konsumierbar ist. Die also unter Zeitdruck angefertigte Collage nimmt in ihrer Entstehung Bezug auf das punktum (Roland Barthes: Die helle Kammer, Paris 1980) – dem zufälligen Berührtwerden von den Stücken. Das heißt, die Worte, Sätze, Bilder und Zeichnungen auf dem Poster gründen auf sehr persönlichen Assoziationen der Beiden zu den gesehen Stücken. Diese basieren wiederum auf einer Art impulsiven Denkbewegung, für die Agnes Kern und Valentin Schmehl hier einstehen. Ein spannendes, selbstironisches und sympathisches Projekt, das eine klare Verbindung zu den heutigen Stücken hat, aber vor allem aufzeigt, wie sehr das Berührtwerden von Stücken mit Überraschungen, aber auch mit dem persönlichen Vorwissen und Erfahrungshorizont zusammenhängt. Auch fühle ich mich mit dieser Arbeit irgendwie persönlich angesprochen: denn auch meine Texte sagen zwar etwas über die Stücke, entblößen aber in erster Linie meine eigene Perspektive darauf.
Nach der Pause sehen wir noch ein letztes Stück: Das Trio Age of Beyond. Mini Version von Sandhya Daemgen, die im BA-Programm Tanz, Kontext, Choreographie am HZT Berlin studiert. Erwartungsgemäß hebt sich diese Arbeit von den anderen ab, jedoch empfinde ich die Diskrepanz in diesem Jahr nicht mehr so stark wie noch in der vorjährigen „S.o.S.”-Ausgabe. Zu Beginn schlängeln sich drei Performerinnen draußen durch die herumstehenden Menschen hindurch, ihre Arme wehen im Wind wie Äste eines Baums, mit säuselnder Stimme nehmen sie Kontakt zu einzelnen Menschen auf. So wird, immer mit einem Lächeln auf dem Gesicht, mal ein Kleidungsstück, mal ein Gesichtsausdruck der Besucher*innen kommentiert, was für allgemeine Entzückung sorgt, denn die Performerinnen bestechen mit ihrem Lächeln, ihrem nixenhaften Charme und ihren wehenden Armen. Dann locken diese drei Nixen, kostümsicher in Skinny-Jeans und Sneakers sowie jeweils unterschiedlich gemusterten Blusen, das Publikum zurück ins Studio. Es bleibt beim Wehen, poetische Fragen kommen aus den Mündern der Performerinnen, in denen es um ein mögliches Jenseits und um ein Arrangement von behaupteten Wirklichkeiten und Projektionen der Phantasie geht (apropos Projektion: ein Delphin zwischen zwei antiken Büsten schaut mich von der Wand aus an). Diese poetischen oder gar philosophischen Textfragmente bekommen aber durch die sprachliche Verzerrung (nixenhaftes entrücktes Säuseln) einen Bruch, der mich erschaudern lässt. Nachdem die Drei dann kurz zu Reptilien werden, die sich mit ruckartigen Kopfbewegungen und Bauchlandungen durch den Raum bewegen, wird der Raum zum Ende in pinkes Licht getaucht. Das Säuseln der Drei verzerrt sich zunehmend und bewegt sich an der Grenze zum Monströsen, ein wunderschöner elektronischer Sound erklingt, der ohne jeglichen Beat auskommt und mich in Kombination mit dem Tönen der drei Performerinnen an Walgesänge erinnert. Die nixenartigen entrückten Wesen schweben auf allen Vieren langsam auf das Publikum zu und schmiegen sich an die Sitzreihen, um dann zu verschwinden. Am Schluss nur noch pinkes Licht, Wal-Sound und ich bin eingehüllt in nicht irdische, verzauberte Atmosphäre, die Sirenen rufen mich tatsächlich. Ein sehr gelungener Abschluss des Abends.

Was man heute Abend vor allem erkennen konnte, war die Diversität der verschiedenen Arbeitsansätze. Um den Austausch über diese Diversität, über verschiedene Wissenshorizonte und Kompetenzen unter den Teilnehmenden zu fördern, haben Cilgia Gadola und Alex Hennig ein internes Feedback-Panel organisiert, um sich den gegenseitigen Arbeiten anzunähern. Daneben ist es den beiden mit dieser „S.o.S.”-Ausgabe aber vor allem gelungen, andere Sichtbarkeiten herzustellen, denn die Wahrnehmung der privaten Tanzschulen (schreiben sie im Abendzettel), ist spätestens seit dem Vormarsch des HZT in den Hintergrund gerückt (dem kann ich nur beipflichten). Woran liegt es also, dass die jährlichen Absolvent*innen der Privatschulen die HZT-Absolvent*innen zwar zahlenmäßig klar überbieten, in der Berliner Szene für zeitgenössischen Tanz aber derart unterrepräsentiert sind? Hier könnte man viele Gründe nennen, einer ist sicher die Nähe des HZT zum aktuellen Puls der internationalen Szene für zeitgenössischen Tanz, wo der Körper manchmal eher als ein Zeichenträger und als Ort bestimmter Diskurse statt als Instrumentarium für tänzerische Bewegung verstanden wird. Was wiederum die Privatschulen, in denen es gerade und vor allem um das Erlernen tänzerischer Technik geht, vor ein Problem stellt. So entwickelt sich unter den HZT-Absolventinnen eine gewisse Selbstsicherheit und ein Know-How im Umgang mit der Verbindung von Körper, Bewegung und Diskurs in künstlerischen Prozessen, während die Privatschulen letzteres eher ausklammern oder es zu Unsicherheiten in der Arbeit mit tänzerischer Praxis + Diskurs kommt. Ein anderer Grund mag die fehlende Vernetzung der Privatschulen zur professionellen Szene sowie ein Defizit an der Vermittlung von kulturpolitischem Wissen sein. Auch hier knüpfen Cilgia Gadola und Alex Hennig an, indem sie den Teilnehmenden dieser Ausgabe mit Hilfe von Jara Serrano Gonzales (Vorstandsmitglied zeitgenössischer tanz berlin e.V.) einen Überblick über die Förderlandschaft der Berliner Tanzszene geben und damit hoffen, dass ein breiteres Wissen (= Macht) in die Ausbildungsstätten zurück getragen wird.
Man merkt dieser „S.o.S.”-Ausgabe an, dass das Festival im Vergleich zu letztem Jahr noch einmal gewachsen ist: Denn neben der Herausstellung von Diversität und der gelungenen Öffnung von sowohl gegenständlichen als auch dialogischen Räumen, wurde in diesem Jahr vor allem auf bestehende Machtstrukturen in der Berliner Ausbildungslandschaft hingewiesen. Insofern handelt es sich bei der „S.o.S.”-Ausgabe 2016 um eine politische Arbeit, die in ihrer Form einzigartig ist und auf deren Fortsetzung wir gespannt sein dürfen.


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

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