Text zu NAH DRAN 52 (12./23. August 2015) von Johanna Withelm

 

 

In die NAH DRAN Ausgabe 52, und damit in den Auftakt meiner Zeit als Studioschreiberin des ada studio, stolpere ich quasi direkt aus dem Flugzeug, vom Sommerurlaub kommend. Ich fühle mich in der Stadt noch wie Falschgeld und der Gedanke an Tanz, Theater oder Performance scheint mir zu absurd. Dieser Zustand sollte sich jedoch später sogar als fruchtbar erweisen, denn so durcheinander und nach innen gekehrt, wie ich kam, desto empfänglicher schien ich in der Wahrnehmung des Geschehenen zu sein:
Die erste Arbeit, die das Publikum und ich zu sehen bekommen, ist ein Solo namens „LARA“, und stammt von der österreichischen Tänzerchoreographin Mirjam Sögner. Mit eng anliegendem akkuraten Zopf, gekleidet in gelber Karottenjeans, bunten Sneakern und schwarz glänzendem Rippshirt betritt sie den Raum und setzt sich auf einen Stuhl. Plötzlich entgleist ihr Gesichtsausdruck, ihr Blick beginnt merkwürdig zu flattern, fast unheimlich erscheint mir nun dieses Mädchen. Mirjam Sögner beginnt sich zu bewegen, und ohne einen Satz im Abendzettel gelesen zu haben (ich las ihn erst nach der Vorstellung), denke ich unwillkürlich zuerst an „Lauras Stern“, eine animierte Fernsehserie für Kinder, die meine Tochter gerne schaut. Ganz falsch liege ich damit interessanterweise nicht, denn der Ausgangspunkt für diese Arbeit von Mirjam Sögner sind, wie der Titel schon verweist, Bewegungsschemata animierter Helden aus Computerspielen ab 2000. Sögners gleitende automatisierte Bewegungen, permanent unterbrochen durch winzige Stops im Bewegungsfluss, die Steifheit im Oberkörper, der unnatürliche, starre Gesichtsausdruck und der flatternde Blick kommen mir vertraut vor, und vermitteln mir dennoch einen Eindruck der Kälte und Leblosigkeit. Sögner vollzieht menschliche Handlungen: sie steht von einem Stuhl auf, sie zieht sich Hose und Schuhe aus, das Shirt entpuppt sich als Kleid. Dennoch wirkt alles Bewegte an ihr unorganisch. Ich kenne diese unnatürlichen Bewegungsmuster aus meinem täglichen Umgang mit der virtuellen Welt gut, und dennoch sind sie mir fremd. Die besagten animierten Computerhelden avancierten laut Abendzettel zwar bereits zu weitgehend wahrheitsgetreuen digitalisierten Abbildern des Menschen, jedoch bleibt auf Grund der unnatürlichen Bewegungsmuster, der Glitches (Programmfehler, Pannen) und der steifen Mimik der unheimliche Eindruck des Unnatürlichen und des Kalten. Diese menschlichen Abbilder im Animierten unterscheiden sich von einer technisierten Roboter-Ästhetik des späten 20. Jahrhunderts (behandelt in diversen Science-Fiction Filmen und aufgegriffen zum Beispiel in der damals aufkommenden Tanzströmung Hip Hop/Streetdance) dahingehend, dass die Bewegungsmuster weicher und weniger abgehackt sind, sie kommen dem Original näher. Jedoch ist es gerade diese Nähe zum Original, die uns erschaudern lässt. Die Illusion des wahrheitsgetreuen Abbild existiert, aber sie weist Risse auf, zum Vorschein kommt ein dem Menschen ähnelndes und doch unnatürliches Wesen. Sögner beginnt die anfangs ruhigen Bewegungen dynamischer und raumgreifender werden zu lassen, verliert dabei jedoch nicht an der Qualität des Unnatürlichen, Animierten. Zwischendurch verhaken sich die Bewegungsfolgen und werden von Sögner, gefangen in einer Art hängengebliebenen Dauerschleife wiederholt. Je dynamischer und kraftvoller die Bewegungen dieses „Wesens“, desto raumgreifender wird auch das kühle melancholische Sounddesign von Andreas Völk, welches sich hochpeitscht und nun rhythmischer und gewaltiger wird. An dieser Stelle wird es fast kitschig. Als dann auch noch für kurze Zeit der Text: The thing I desire is mine already. Oh would that I could step out of my own body! an die Wand projiziert wurde, war ich zugegebenermaßen den Tränen nah. Ich weiß nicht, ob dies nun mit meiner eingangs erwähnten Verfassung an diesem Tag zu tun hatte, ist aber auch sekundär. Denn Momente wie diese erinnern mich wieder daran, warum ich ins Theater gehe. „LARA“ ist, um es abschließend zu sagen, eine gelungene und präzise gearbeitete Bewegungsstudie, die mich als Zuschauerin seltsam berührt und doch auch fremdeln lässt. Die Relevanz des Themas, das Verhältnis zwischen materieller und virtueller Welt und speziell das Produzieren einer Körperlichkeit, die an der Schnittstelle dieser zwei Welten liegt, ist offenkundig und geht uns alle etwas an, die wir alle einen Körper haben und zwischen diesen beiden Welten hin und herlavieren. Am Ende des Stücks überlege ich ernsthaft, meiner Tochter vielleicht mal einen guten alten Zeichentrickfilm zu zeigen, wie wäre es mit „Die Familie Fred Feuerstein“ oder „Die Gummibärenbande“. Mirjam Sögner arbeitet zu meiner Überraschung übrigens zur Zeit an ihrem nächsten Stück zu und über Isadora Duncan. Damit widmet sie sich mit dem Natürlichkeitskonzept der Duncan also dem Gegenäquivalent zur technisierten Computerwelt, daher bin ich sehr gespannt und vorfreudig auf das Ergebnis dieser nächsten Arbeit!

Das zweite Stück an diesem Abend ist das Duett „LIGHTBEAT“, choreographiert und getanzt von Dani meets Sara, ein Performance-Duo bestehend aus Daniela Marcozzi aus Italien und Sarah Kuster aus der Schweiz. Laut Abendzettel handelt es sich hierbei um „eine Reise in einem Zeit-Container. Zwei Kreaturen knüpfen eine Komplizenschaft in einer Umgebung von immerwährend verhandelter Balance zwischen Dunkelheit und Licht.“ Licht und Dunkelheit werden in „LIGHTBEAT“ auch als immer wiederkehrende Elemente verwendet. Beginnend mit einem Lichtkegel, der an die Wand projiziert wird, in dem eine Tänzerin steht und der immer größer wird, sowie mit von den Tänzerinnen getragenen Stirnlampen. Marcozzi und Kuster leuchten sich mit ihren Stirnlampen abwechselnd an, die jeweils angeleuchtete tanzt, es kommt zu tänzerischen Interaktionen zwischen den beiden und zu kraftvollen dynamischen Bewegungsfolgen. Das Anleuchten erzeugt bei mir Assoziationen wie den voyeuristischen Blick, wer wird hier von wem angeschaut, wird zum Objekt? Das Bewegungsmaterial der beiden ist recht klassisch und die Qualität der Bewegung sehr fließend und organisch, dann wieder akzentuiert und energetisch, impulsiv und kraftvoll. Auffallend ist die starke Bühnenpräsenz beider Tänzerinnen: die impulsive Daniela Marcozzi mit den großen Augen und die kraftvolle geschmeidige Sarah Kuster nehmen den Raum ganz für sich ein, es macht Spaß, ihnen zuzuschauen. Jedoch springt der Funke nicht ganz zu mir über. Das Bewegungsvokabular ist schön anzusehen und bereitet mir vor allem Lust, selbst zu tanzen. Was mir jedoch fehlt, ist etwas, das abgesehen vom schönen Tanz bleibt. Unvorteilhaft unterstützt wird dieser Eindruck von der (zwar sehr schönen) Musik von Panos Voulgaris & Achilleas Sourlas: warme melodische Gitarrenklänge und Flöten unterstreichen den Tanz in einer solch harmonischen Weise, dass leider auch kein Raum für Brüche oder prägnante Momente bleibt. Eine inhaltliche Kohärenz in der verhandelten Thematik konnte ich nicht ganz erkennen. Licht, Dunkelheit und Zeit bleiben für mich Stichworte die zwar als Stilemente verwendet werden aber dessen Zusammenhang und Legitimation ich nicht so recht sehe. Trotzdem mochte ich die beiden sehr sympathischen Tänzerinnen gerne anschauen. Denn das, was dieses Stück für mich am deutlichsten transportiert und worin seine Stärke liegt, ist der Spaß am Tanz. Und hier möchte ich mich meinem Vorgänger Thomas Schaupp anschließen, der in seinem letzten Text die oft zitierte „Diskurshoheit“ in Frage stellte. Führt unser Blick, der von der Berliner Schule, und hier momentan allen voran von Arbeiten der HZT-Sprösslinge maßgeblich geprägt ist, zu einer gewissen Engstirnigkeit? Und welche Erfahrungen entgehen uns vielleicht durch einen zu elitären und verkopften Zugang zum Tanz? In dieser Hinsicht hat mich „LIGHTBEAT“ auf jeden Fall zum Nachdenken gebracht.

Zum dritten und letzten Stück habe ich ein ambivalentes Verhältnis. Es war für mich wohl das interessanteste Stück des Abends, und gleichzeitig das Stück, zu dem ich am wenigsten Zugang hatte. Es handelt sich um das Solo „Ghosts of Berlin“, von der australischen Regisseurin und Performerin Gabrielle Nankivell, das sich mit dem „enigmatischen Erinnerungsraum Berlin als Initiator physischen Denkens“ beschäftigt. Diese Solo-Arbeit ist ein Forschungsprojekt, das im Rahmen des diesjährigen Stipendiums der Tanja-Liedtke-Stiftung entstand. Das Stipendium umfasst unter anderem eine dreiwöchige Residenz im ada studio, deren Arbeitsergebnis an diesem Abend gezeigt wird. Gabrielle Nankivell betritt den clean ausgeleuchteten Raum und erzählt den Zuschauer_innen kurz von dem Stipendium, von ihrer Arbeit, und dass diese in Kollaboration mit der Choreographin und Tänzerin Laurie Young und dem Choreographen und Tänzer Raul Maia entstanden ist. Sie sagt, dass hier die Einflüsse und Interventionen anderer Solo-Künstler_innen dabei helfen, ihre eigene Solo-Praxis zu befragen. Sie erzählt kurz von der Struktur des Stücks, dass sie mit einem score arbeitet, der jedoch jederzeit leicht abgewandelt sein kann, dass die Version, die sie am gestrigen Abend gezeigt hat, in der Form das erste Mal stattgefunden hat und heute soll es eine erneut veränderte Version geben. Nachdem Nankivell ihre kurze Lecture beendet hat, nimmt sie eine Polaroid-Kamera in die Hand, und schießt vom hinteren Bühnenrand aus ein Foto von Zuschauer_innen, das sie in ein kleines Notizbuch legt. Auf dem Boden liegen diagonal in einem breiten Streifen durch den Raum verteilte schwarzweiße Fotografien. Diese orientieren sich jeweils an einem Postkarten-Original, das einen bestimmten Ort Berlins abbildet. Da ich in der hintersten Reihe sitze, sind die Motive nicht alle leicht zu erkennen, ich erkenne jedoch einige Stadtaufnahmen sowie Close-ups von Nankivell selbst. Zwischen den einigen hundert Fotografien liegen ein paar wenige zusammengefaltete Zettel am Boden, die Nankivell nach und nach aufhebt und vorliest. Es handelt sich um an sie selbst gerichtete Briefe, die alle mit „Dear Gabrielle“ beginnen. Nach dem Vorlesen der Texte folgt stets eine kurze Bewegungsfolge, die viel mit dem Wiederholen (dem Erinnern?) einzelner Sequenzen arbeitet. Die Bewegungen sind, passend zur unaufgeregten Lecture-Ästhetik klar und reduziert, das Bewegungsmaterial originell, die einzelnen Phrasen wirken wohlüberlegt, wenig effekthascherisch und sind doch spannend anzusehen. Jede Sequenz ist anders und ich meine eine Parallele zwischen der Stimmung des jeweils vorgelesenen Briefs und der anschließenden Bewegungsfolge wahrzunehmen, die jedoch nie plakativ oder offensichtlich ist. So tappe ich auch hier hin und her zwischen Dunkelheit und hellen Momenten.
„Ghosts of Berlin“ nehme ich wahr als eine feinfühlige und hybride choreographische Komposition aus Bildern, Bewegung, Text, Erinnerung und Improvisation, das einige Rätsel schafft. Zum Schluss holt Nankivell das Polaroid aus ihrem Notizbuch, und steckt es, ohne es uns vorher zu zeigen, in einen bereits adressierten und frankierten Briefumschlag und drückt diesen einer Zuschauerin in die Hand, mit der Bitte ihn abzuschicken. Im Anschluss an die Performance lädt sie dazu ein, die Fotografien am Boden anzuschauen, und ich erkenne an einigen Stadtschauplätzen die Tänzerin in „stillgestellten“ Bewegungen wieder, die ich eben noch bewegt gesehen habe. Grübelnd verlasse ich den Raum mit einigen Fragen im Kopf. Wie sind die Texte entstanden? Wie wurde das Material in Bezug zum Text und Ort/Foto generiert? Und vor allem: An wen wird das Polaroid von uns geschickt?

Die NAH DRAN Ausgabe 52 wurde bestimmt von drei Arbeiten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Es begegneten sich sowohl drei unterschiedliche Bewegungssprachen als auch Ästhetiken. Die technoide Qualität von Mirjam Sögner traf auf die organisch energetische Bewegungssprache von Dani meets Sara und die puristische Bewegungssprache von Gabrielle Nankivell. Ein kühles, technisches und entfremdetes Setting traf auf eine eher klassische Tanztheater- sowie auf eine reduzierte Lecture-Ästhetik. Gerade diese Kontraste sind es, die diese Ausgabe spannend machen. Insofern spiegelte dieser Abend zum einen sehr schön die Bandbreite des zeitgenössischen Tanzes und bildete zum anderen für mich einen gelungenen Auftakt meiner Zeit als Studioschreiberin. In diesem Sinne: ich freue mich auf das, was noch kommen wird!


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

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