Text zu "NAH DRAN extended: REORIENTING" (27.-28. Februar 2021) von Anuya Rane

 

"NAH DRAN extended: REORIENTING", kuratiert von Roni Katz und Maya Weinberg, fand als Videostream vom 27. bis 28. Februar 2021 statt. Der Abend schien vielversprechend mit drei spannenden Auftritten/Work-in-Progress-Präsentationen. Zwei davon waren Tanz-Performances - mit Ali Enani und Elvan Tekin & Magdalena Lermer. Die dritte war eine Art performative Video-Installation von Rahel Crawford Barra & Zrinka Užbinec.

 

Den Anfang machte Ali Enani mit „Deception“ („Täuschung“). Ali ist ein Bewegungsvirtuose. Er ringt mit der Idee der Identität, der Zugehörigkeit. Seine eigene verwirrte Identität. Offenbar findet er Trost in seiner tanzenden Identität. Er will beweisen, dass er in der Kunst und in der Gesellschaft einen bestimmten Platz hat, und den will er selbst definieren. Genau so geht es uns allen als Künstler*innen. Das Mittel steht zur Verfügung und der Schöpfer übernimmt die Verantwortung dafür, seine Persönlichkeit daraus zu schöpfen. 

Das Stück „Deception“ ist, wie der Titel andeutet, keine Freude. Enani sucht nach Wegen, um seine Emotionen zu formulieren. Sein Körper hat die Kapazität, diese Aufgabe zu erfüllen. Offensichtlich sind die Kraft und die Stärke in seinen Bewegungen auf seinen Streetdance-Hintergrund zurückzuführen, wodurch er es schafft, sein inneres verletzliches Selbst zu öffnen. Der Tänzer lässt sich nicht begrenzen, weder vom Tanzstil, noch von der Wahl der Musik; er erforscht alle in ihm tanzenden Wesen und die Möglichkeiten, die sein Körper ihm bietet, um sich auszudrücken. Sowohl die großartigen Bewegungen - Sprüngen, Pirouetten, Kopfstand -, als auch die minimalistischen Phrasen füllen den Raum, wobei diese behaupten, dass in jeden Moment einiges erlebt ist. 

Nach einer lauten, feierlichen Musik begleitet uns der Tänzer in eine ruhige, entspannende Erfahrung. Die orientalische Musik, der Gesang dringt durch das Herz. Zwei Spots von den Seiten formen seinen Schatten an der hinteren Wand. Zwei Schatten, klein und groß, kreieren einen Echo-artigen Effekt. Das Bild erweckt den Eindruck eines Wesens, das aus einer Höhle auftaucht mit dem Drang, gesehen und gehört zu werden. Enani riskiert seine Persönlichkeit, öffnet seine persönlichen Erfahrungen für uns. Dabei ist er auf dem richtigen Weg. Mit einer guten Dramaturgie kann „Deception“ eine erfolgreiche „Deception“ werden. 

 

Nachdem Ali Enani in Dunkel verschwunden war, erschienen zwei Hände, aufeinander, sich bewegend. Langsam geht die Kamera aus der Nahaufnahme in die Vergrößerung. Die Hände bewegen sich auf dem sich bewegenden Rücken einer Tänzerin, die schlängelt. Ganz zarte und weiche Bewegungen. So fängt das zweite Stück des Abends, „to be a fish in a raki bottle“ an - 'Ich wünschte, ich wäre ein Fisch in einer Raki-Flasche' (aus einem Gedicht des türkischen Dichters Orhan Veli Kanik), von Elvan Tekin, in künstlerischer Kollaboration mit Magdalena Lermer. 

Der Fisch symbolisiert die Zerbrechlichkeit der Existenz innerhalb des Ökosystems, was auf die Ohnmacht der Völker der Türkei angesichts politischer und wirtschaftlicher Herausforderungen bezogen werden kann; die ontologische Krise des Individuums führt zur Erschaffung von Utopien und dem verzweifelten Versuch, die Realität durch dionysische Feste und Feiern zu überwinden, beschreiben die Künstlerinnen. 

Von außen betrachtet scheint die politische Situation in der Türkei tatsächlich fragil. Von der Demokratie zur Diktatur? Von der Freiheit zu Beschränkungen? In den letzten Jahren schwankt die Situation in der Türkei zwischen diesen Bereichen. Wie fühlt sich die Gesellschaft an, wenn wenn das Individuum machtlos ist… 

Tekin tanzt und ihr Kopf ist mit einem Tuch bedeckt. Der Körper schlängelt in die Tiefe auf dem Boden, geht langsam in die Höhe, ohne sich wirklich auszubreiten. Obwohl die Tänzerin den Raum nutzt, bleibt sie hauptsächlich fest auf einem Platz im Raum. Diese maskierte Identität, gefesselt in einem sich bewegenden Körper, entwirft das Bild von der typischen abgeschafften Bevölkerung. Tanzend zu psychedelischer Rockmusik wirkt sie wie hypnotisiert. Als sie ihren Kopf von dem Tuch befreit, bewegt sie sich wild. Die Bewegungen aus dem zeitgenössischen Tanz machen Platz für orientalische Extravaganz. 

Frust und Phantasie ist hier gleichzeitig vorhanden. Der Tanz und die Musik wirbeln zusammen, um einen Sturm zu entfesseln. 

 

Mit Beginn des nächsten Stücks werden wir aus diesem tiefen, innerlichen, persönlichen Bereich in die weite, wilde Welt, 'Natur' genannt, entführt mit der Performance von Rahel Crawford Barra & Zrinka Užbinec, „Natur/&$!#@1!/Romantik“. Diese Natur hat den Wald als Hintergrund. Im Gegenteil zu dem begrenzten Studioraum mit einer frontalen Sicht auf die Performance spielt die Kamera die Hauptrolle in dieser performativen Video-Installation im Freien. 

Unter „Natur“ kann man freilich vieles verstehen, sei es die Welt, das Universum, die Gesamtheit der Dinge, die Wirklichkeit überhaupt, oder aber nur das Lebendige, vielleicht auch nur die „Natürlichkeit“ als das eigentliche, ursprüngliche Wesen der Dinge. Hier wird dennoch die Natur anders konzeptualisiert, getrennt von der bestimmten Romantisierung der Natur. In der sogenannten Rom-Kom bin ich dennoch in Konzepten verloren. 

Eine Komödie ist es schon wegen der Behandlung. Im Kontrast zur Romantik ist Natur hier zerstört, sie ist aber trotzdem 'ganz natürlich'. Die Wälder nämlich waren in der Geschichte der Menschheit immer besonderes bedeutsam. Sie repräsentierten Kampf, Gewalt, Krieg, Trauer, Verlust usw., wobei diese ebenfalls Symbole der Romantik waren. „Natur/&$!#@1!/Romantik“ wagt diese Idee zu brechen. Zumindest eine unerwartete Leichtigkeit hinein zu bringen, wobei die Performerinnen lustige Dinge unternehmen: mit den Bäumen und den Ästen zu tanzen, oder willkürlich Blätter zu essen. Die zwei Tänzerinnen sind ungewöhnlich gekleidet, ungewöhnliche Kombinationen. Mitten in der Rohheit brechen sie plötzlich in einen Walzer aus. Eine schöne Phrase wird auch getanzt. Alles voll romantisch… Das jedoch ist keineswegs abseits romantischer Perspektive gedreht. Die Kamera bleibt statisch. Die Figuren kommen und gehen. Die Rahmen werden abrupt gebrochen. Die Kamera fängt alles, was geschieht, ein, ohne sich selbst einzubringen. Noch dazu sind die Rahmen manchmal wacklig. 

Später gibt es ein Interview mit einer der Performerinnen, die mit Hilfe einer Leiter auf einen abgerissenen Baum klettert. Sie findet einen „gemütlichen Platz“, wobei es überall beim Sitzen sticht. Ihr werden Fragen zu ihrer Person gestellt und sie antwortet ganz friedlich. Das ist bestimmt eine witzige Szene, da die Fragen merkwürdig sind und sie werden dennoch beantwortet. Ich bin aber mittlerweile verwirrt - wofür? Und worum geht es? Als ein Film-Experiment gefällt es mir schon. Der Versuch, das Thema Natur und Romantik zu behandeln, ist einigermaßen gelungen. Es bleibt viel im Kopf.


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

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