Text zu NAH DRAN 53 (10./11. Oktober 2015) von Johanna Withelm

 

 

Manchmal entwickeln Präsentationsformate, die ohne übergreifendes Thema ausgeschrieben bzw. kuratiert werden, an gewissen Abenden trotzdem von selbst eine innere Logik oder einen Zusammenhang in der Konstellation der Stücke. So ging es mir mit NAH DRAN 53, der zweiten NAH-DRAN-Ausgabe in meiner Laufzeit als Studioschreiberin. Was sich an diesem Abend wie ein Faden durch das Programm zog, war keine inhaltliche Thematik, wohl aber etwas, das sich in der Attitüde der Performerinnen und choreographischen Herangehensweise spiegelte: eine Spannung zwischen Anstrengung und Leichtigkeit, zwischen Getriebenheit und Nonchalance, zwischen Anzughosen und Glitzerstrumpfhosen, zwischen Büro und Glamour. Als ich also fröstelnd an diesem übrigens ersten wirklich kalten Wochenende in Berlin das ada Studio betrete, liegt eine schwarz gekleidete Tänzerin bereits auf dem Boden, ihre Beine im Mittelgang der Tribüne hochgelegt, die Arme auf dem Boden von sich gestreckt. Das erste Stück an diesem Abend trägt den Titel „Spectral Schematics” von Lea Pischke und beschäftigt sich laut Abendzettel mit einer Form, die „sich in einem Klang entfaltet. Wie entwickelt sie sich und wie starr ist sie? Wann tauchen Schemen auf, wann vergehen sie wieder?“ Der Blick in den Abendzettel verrät zudem eine interessante, wenn auch recht unübersichtliche Kollektivarbeit: von Lea Pischke stammt das Konzept, drei andere Frauen übernahmen die choreographische Arbeit (Nina Berclaz, Corina Kinnear und Emilie Jacomet), und getanzt wird von Lea Pischke selbst, einer der drei Choreographinnen (Nina Berclaz) sowie einer weiteren Frau, die nicht an der Choreographie beteiligt war (Iliana Kalapotharakou). Die drei Tänzerinnen beginnen zunächst, sich auf dem Boden in verschiedenen zeitlichen Intervallen zu bewegen, nacheinander, manchmal gleichzeitig, versetzt, unterbrochen durch längere Pausen. Die Bühne ist hell ausgeleuchtet, menschliche Stimmen in verschiedenen Sprachen aus dem Off bilden einen Geräuschteppich. Die Bewegungen sind nicht, wie so oft, in zeitgenössischer Bodenarbeit durch eine organische und fließende Qualität bestimmt, die viel mit Schwere und Gewicht arbeitet, sondern durch Pausen abgehackt, klar geformt, sauber ausgeführt. Die (Körper)Formen, die dadurch am Boden entstehen, sind geometrisch und bilden, unterstützt durch die Kleidung (bestehend aus dunklen Anzughosen mit schwarzen Oberteilen) eine kühle, maschinenhafte Ästhetik. Spannend wird es, als diese Stimmung langsam und zunächst unmerklich aufgebrochen wird. Die Tänzerinnen beginnen, die Ebene zu wechseln und sich nach und nach vom Boden etwas in die Höhe zu bewegen, und hier und da sehe ich nun einzelne Körperposen wie einen herunterhängenden Arm oder ein geschmissenes Bein, die nicht mehr dem vorherigen Prinzip der klaren Form entsprechen. Da dieser Wechsel nicht abrupt, sondern fast unmerklich nebenbei geschieht, wirkt dies auf mich zuerst wie eine Täuschung in der Wahrnehmung, dann jedoch wie Körper, die langsam sukzessive ihr eigenes System korrumpieren. Dieser sehr feine und präzise gearbeitete Wechsel in der Bewegungsqualität erzeugt tatsächlich Formen und Schemen, die leise auftauchen und wieder vergehen, und aktiviert gleichzeitig die Aufmerksamkeit im Zuschauen. Diese Feinheit im Beginn findet jedoch ihr Ende, als die Tänzerinnen vom Boden nach und nach in die Vertikale kommen und mit hoher Dynamik und angestrengten Gesichtern durch den Raum fegen. Eine Tänzerin holt vier Metronome hervor, die durch ihr zufällig versetztes Ticken eine Klangkulisse bilden und die sie in jede der vier Raumecken stellt. Die Tänzerinnen, alle drei sehr energisch, sauber in ihrer Technik und ausgestattet mit starker Präsenz, bewegen sich schnell und kraftvoll um die Metronome herum, wobei mehrmals ein Metronom laut scheppernd umgeworfen wird, um von einer Tänzerin stets wieder aufgehoben zu werden. Eine andere Tänzerin versucht angestrengt, etwas „loszuwerden“, ich weiß nicht was. Alle drei wirken sehr getrieben in dem, was sie tun, und auch das abrupte Ende voller Elan, in dem eine Tänzerin ein Metronom entschlossen in die Luft hält, vermittelt mir etwas Angestrengtes. Insgesamt war ich bei „Spectral Schematics“ ambivalent: ich mochte die Kraft der drei Tänzerinnen und die präzise gearbeiteten Bewegungsqualitäten, hatte jedoch Schwierigkeiten mit dem Umgang der Klangrequisiten, deren Einsatz sich mir nicht erschließen wollte, sowie mit der Attitüde einer bestimmten Dringlichkeit, deren Beweggrund sich mir ebenfalls nicht offenbarte.
Das Stichwort Getriebenheit führt mich gleich zum zweiten Stücks des Abends: „Leave the keys and go” ist ein Solo der israelischen Tänzerchoreographin Gali Kinkulkin, das mittels ermüdender Bewegungen, die Unbehagen hervorrufen sollen, „die Komplexität der kulturellen Identität in Bezug auf die eigene Identität“ erkunden will. Sie beginnt sich sehr langsam auf dem Boden im Kreis zu drehen, und in dieser Verlangsamung liegt hier auch die Qualität – ein schöner Einstieg in das Stück, an dieser Stelle hätte ich gut noch länger zuschauen können. Gali Kinkulkin erhöht jedoch ihr Tempo und hetzt im Kreis herum, dabei wechselt sie die Ebenen und rollt im Liegen sowie Sitzen. Es folgt eine Reihe von bekanntem Bewegungsmaterial am Boden wie Schulterrollen und ähnliches, untermalt von einem warmen rhythmischen Soundteppich. Die Ruhelosigkeit steht Kinkulkin ins Gesicht geschrieben, was genau sie antreibt, bleibt für mich undurchsichtig. Schließlich beginnt sie sich um sich selbst zu drehen, lange und ausdauernd. Sie dreht und dreht und dreht. Sofort muss ich an Mary Wigmans Drehmonotonie denken, die sich vom Drehritual der Mevlana-Derwische inspirieren ließ und deren bewegungsästhetisches Motiv des Drehens im Tanz immer wieder zitiert wurde, um ein Moment der Ekstase, des Ich-Verlusts herzustellen. Gali Kinkulki dreht ausdauernd weiter, ich spüre Schwindel beim Zusehen. Die Musik erreicht schließlich ihren Höhepunkt, wird lauter, zu laut, und Gali Kinkulkin beendet langsam das Drehen, kommt zum Stand, was ihr sichtlich schwerfällt, man sieht das Wanken noch in ihrem Gesicht. Die Musik stoppt und sie beginnt zu würgen, tut so, als ob sie auf den Boden kotzt, ein laut geschauspielertes Kotzen also, welches die Glaubwürdigkeit der körperlichen Erfahrung im Drehen, sowie dessen kinästhetischen Nachvollzug (spürbarer Schwindel beim zusehen) leider gerade zunichte macht. Warum an dieser Stelle ein all zu plakativer Verweis von Drehen zu Kotzen? Schade eigentlich. Gali Kinkulkin geht über in ein Schütteln des Kopfes, der Arme, des Oberkörpers. Sie schüttelt, was das Zeug hält, aber auch hier vermittelt sich mir eher der Eindruck einer Mitteilungsbedürftigkeit über Anstrengung anstatt von körperlicher Anstrengung selbst. Vielleicht hätte es für mich besser funktioniert, wenn der Fokus mehr auf der körperlichen Erfahrung selbst anstatt auf einer Erzählung über körperliche Erfahrung liegen würde. Ich sehe zwar Ansätze von einer solchen Erfahrung, und diese sind durchaus spannend, werden aber zum Einen nicht konsequent genug bis an die Grenzen geführt und zum Anderen durch Schauspielerei unterwandert. In diesem Sinne plädiere ich dann doch für ein echtes Kotzen auf der Bühne, was doch in jedem Fall eindrücklicher wäre als eine pantomimische Darstellung dessen.
Die dritte und letzte Performance an diesem Abend, ein Duett, stammt von der in Berlin lebenden Finnin Maria Rutanen, trägt den Titel „The Rooms” und bedeutet für mich an diesem Abend eine deutliche Entspannung in der Wahrnehmung. Nach den ersten beiden, für die Zuschauer*innen vielleicht eher sperrigen Arbeiten, verbreitet „The Rooms“ angenehme Leichtigkeit. Von der Decke hängen zwei Glühbirnen an Kabeln herunter und verströmen warm getöntes Licht. Darunter liegen Maria Rutanen und die argentinische Tänzerin Rocio Marano. Die synchronen, zunächst sitzend ausgeführten Bewegungen der beiden lassen mich bei vertrauter Kinetik zurücklehnen, das Material besteht zu einem großen Teil aus Alltagsbewegungen und erinnert mich zum Teil an Anne Teresa de Keersmaeker. Die Bewegungen sind leicht ausgeführt, ohne dabei leer zu wirken, die im gedimmten Licht gold und silber leicht glitzernden Strumpfhosen der Tänzerinnen und der energetisierende elektronische Sound versprühen einen Hauch Glamour. Maria Rutanen und Rocio Marano tanzen im Liegen, Sitzen, Stehen, aneinander, umeinander herum, gemeinsam und jeder für sich. Irgendwann ändert sich die Qualität und die Bewegungen werden entrückter, explosiver, weniger „schön“, verlieren aber nie ihren Ausdruck der Leichtigkeit. Als ich nach einer Weile denke: Jetzt könnte ich einen Wechsel gebrauchen, Sprache wäre ganz gut, hören sie auf, sich zu bewegen, blicken ins Publikum und beginnen zu sprechen (hier mal eine echte Antizipation!). Maria Rutanen erzählt auf englisch mit starkem finnischen Akzent, und Rocio Marano übersetzt auf spanisch. Sie erzählt Dinge von sich, wir erfahren, wie sie heißt, wo sie herkommt, dass sie gerne Kaffee trinkt, dass sie manchmal gerne ausgeht und bis sieben Uhr morgens zu elektronischer Musik tanzt und vieles mehr. Schließlich erzählt Maria, dass sie ein Zimmer in Berlin sucht, und wenn jemand etwas weiß, einen Tip oder Kontakt für sie hat, möge er sich doch bitte melden, laut buchstabiert sie Ihre Emailadresse. Gekicher im Publikum, auch ich bin belustigt. Als der kleine Monolog endet, klatschen die Zuschauer*innen, doch wider Erwarten geht die Musik noch einmal an und Maria Rutanen und Rocio Marano tanzen weiter. Die Energie im Raum geht hier spürbar abwärts und an dieser Stelle denke ich, dass es nicht immer notwendig ist, den Kreis zu schließen. Ich verzeihe es den beiden aber gerne, denn das wunderbare Arrangement von Bewegung, pulsierenden elektronischen Klängen und Bühnenbild/Licht geht auch in der zweiten Runde noch einmal auf. Die Beschäftigung mit eigenen Räumen, (Raum)Grenzen, Verbindungen und Differenzen mit anderen Räumen/Menschen, die schon im Abendzettel angedeutet wird („Wo fange ich an? Wo höre ich auf? Ist mein Raum ein Geisteszustand?“) wird hier zum einen in der bewegten Interaktion zwischen den beiden Körpern sichtbar und zum Anderen in Form des Monologs reflektiert: Der Begriff (Eigen-)Raum taucht hier als WG-Zimmer noch einmal ganz konkret auf und verweist nebenbei noch geschickt auf die brisante Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt (Willkommen in der Hölle von wg-gesucht.de!). Eine rundum schön anzusehende Arbeit und ein gelungener Abschluss des Abends.


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

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