Text zu „reinkommen“ (4. August 2023) von Maia Joseph, ins Deutsche übersetzt von Ada Nasilowksa
Heutzutage fühlt es sich für uns immer fremder an, ein Teil des Publikums in einem Live-Theater zu sein. Es ist eine Herausforderung, unsere gesamte Aufmerksamkeit einer Sache zu schenken, ohne dabei abgelenkt zu werden. Wir inspizieren konstant die Bildschirme unserer Handys, hauptsächlich aus purer Notwendigkeit, nicht weil es gerade dringend ist.
Diese süchtig machende Angewohnheit hat unsere Verarbeitung von Informationen verändert. Insbesondere TikTok hat einen großen Einfluss darauf, wie wir Tanz als Kunstform interpretieren.
Professionelle Tänzer*innen, wie Julie Carrere, kennen das Gefühl, den anderen Menschen ständig ihren Job erklären zu müssen. Sobald das Thema ,Tanz als Profession’ kommt, wird nicht selten die Frage gestellt - ‚Achso, bist du dann eine Ballerina?‘ Darauf antwortet Julie leicht grinsend: ‚Nein. Ich habe Ballett getanzt, als ich jünger war, allerdings tanze ich jetzt zeitgenössisch‘. Daraufhin folgt meistens die Frage: ,Was heißt denn zeitgenössischer Tanz?’, was anscheinend für viele unklar sei. Jedoch bekommt heutzutage der Begriff ,TikTok Tänzer’ immer mehr Relevanz. Aber warum? Und wie kommt es dazu, dass TikTok Tänzer*innen und die dort erschaffenen Tänze so populär sind und oft viral gehen?
Dies sind die Fragen, mit den sich Carrere befasste, als sie ihr Stück kreierte, das ihre persönliche, theatralische Erforschung der neuen Realität darstellt.
Wir saßen alle im Publikum etwas verwundert, als wir auf der linken Bühnenseite ein Ringlicht sahen, auf dem eine rote, langhaarige Perücke hing. Das Stück begann mit dem Song ,Beso’ von Rosalia und Rauw Alejandro, was ziemlich unerwartet war. Carrere lenkte sofort die ganze Aufmerksamkeit auf sich, als sie von der linken Seite die Bühne betrat. Sie fing an zu tanzen, ohne dem Publikum dabei einen Lip-Sync zu ersparen. Ihre Körpersprache drückte eine ,ironische’ Sinnlichkeit aus, zugleich imitierte sie die typischen, kleinen, schnell wechselnden Schritte, für die TikTok Tänzer*innen bekannt sind. Nachdem sie die kompletten 3:15 Minuten durchtanzte, was für viel Gelächter im Publikum sorgte, änderte sich die Atmosphäre im Raum. Eine weibliche Stimme mit einem australischen Akzent hallte durch die Lautsprecher. Sie erzählte ihre traumatischen Erlebnisse von ihrem ersten BH-Kauf bei Target mit ihrer Mutter. Carrere begann, sich entsprechend zu dieser Stimme zu bewegen und lebte jeden ausgesprochenen Satz aus. Die Erzähler*in machte deutlich, dass die Tatsache, eine richtige BH-Größe herausfinden zu müssen, komplett überfordernd war. Nichtsdestotrotz wurde die Erzähler*in von der Mutter dazu gezwungen, einen BH zu kaufen, denn erst dann kann sich jemand als eine ,wahre Lady’ bezeichnen.
Die Einführung der weiblichen Stimme schien ein Kommentar zu sein, der die unausgesprochenen Regeln ausdrückte, auf die Frauen in den letzten Jahren immer aufmerksam machten. Sie wurden jedoch stets ignoriert. Der Begriff ,Lady’ hört sich ziemlich veraltet an, erweckt jedoch bestimmte Bilder in unseren Köpfen: makellose Haut, bildschönes Gesicht, lange Haare. Einige von den bekanntesten TikTok Stars, wie Addison Rae oder Charli D'Amelio, entsprechen diesem Schönheitsideal. Kombiniert mit ihren westlichen, inhärenten Gesichtsattributen, verführendem Lächeln und suggestiven Bewegungen, ist es kein Wunder, dass sie bekannt geworden sind. Wir haben den Eindruck, wir kennen sie, sobald sie auf unserem Handydisplay erscheinen. Unsere Reaktionen auf sie und ihre Tänze sind etwas absurd, verglichen mit unseren natürlichen Reaktionen im echten Leben. Carrere lädt das Publikum dazu ein, ihre Reaktionen während des laufenden Programms mit ihr zu teilen und sie zu vokalisieren. Alle Zuschauer*innen blieben jedoch still, weil sie die Performance nicht stören wollten. Selbst wenn wir konstant auf unseren Bildschirm starren, dauern unsere Reaktionen nicht all zu lang, unabhängig davon, ob Informationen online oder in der echten Welt mit uns geteilt werden. Wir sind stark überreizt, unsere Konzentrationsspanne verkürzt sich und wir scrollen planlos weiter, sobald wir etwas nicht mehr unterhaltend finden.
Nachdem Carrere diesen Realitätsstand schilderte, fühlte sich ihre Performance wie ein ewiges Scrollen durch verschiedene TikTok Kompilationen an, mit einem ironischen Nachgeschmack und voller Kuriosität. Sie erregte unsere Aufmerksamkeit durch variierende Längen der Szenen. Außerdem integrierte sie bekannte TikTok Songs wie ,Sure Thing’ von Miguel (schnellere Version) und andere Voiceover, u.a. die uns allen bekannte Siri Stimme, die darüber sprach, wie Liebe gezwungenermaßen erwidert werden könnte. Die Lösung dazu steckte jedoch in einem Audio, was heruntergeladen werden konnte. Das erzeugte ein paar Lacher im Publikum.
Eine weitere Szene, die herausstach, war, als Carreres Bewegungen immer größer wurden, begleitet von einem energetischen Song. Nach einer sich wiederholenden Sequenz von kreisenden und herumgeworfenen Armen, Hocken und Gestikulieren mit ihren Fingerspitzen, begann sie, unsere Aufmerksamkeit auf das Ringlicht mit Perücke zu lenken, das immer noch in derselben Ecke stand. Mit langsamen Schritten näherte sie sich dem Ringlicht. Sie setzte die Perücke auf ihren Kopf, die langen Haare verdeckten ihr Gesicht und sie drehte sich mit dem Rücken zum Publikum, dabei schwang sie leicht mit ihrer Hüfte. In diesem Moment erklang harte Rockmusik, die einen fesselnden Kontrast zur Weichheit ihrer Körperbewegungen darstellte. Eine erneute Version von ,Beso’ war plötzlich zu hören, die etwas schief klang. In Relation zu dem Musikwechsel, bewegte sich Carrere etwas sorgloser. Klare Shapes, Dynamiken, Länge, die die nur auf TikTok reduzierten Bildschirme nicht auffangen könnten.
Nachdem sie sich die Zeit genommen hatte, aus jeglichen imaginären Restriktionen auszubrechen, war sie auf allen Vieren und ihre Bewegungen wurden stiller und subtiler. Schließlich legte sie ihren Kopf komplett auf den Boden und es erklang wieder ,Sure Thing’, dieses Mal eine noch schnellere Version. Ihre kleinen Bewegungen wurden fürs Publikum immer sichtbarer. Sie tanzte zu dem Songtext, blieb jedoch mit ihrem Kopf immer noch auf dem Boden. Die ganze Szene spiegelte vermutlich eine Situation wieder, in der wir uns oft befinden, wenn wir nachts die Informationen nahezu bewusstlos weiterscrollen, ohne sie wirklich noch aufnehmen zu können.
Nach dieser etwas ruhigeren Szene stieg die Energie im Raum wieder, als Carrere eine Springseil-Sequenz performte, begleitet von Lady Gagas bekanntem Song ,Just Dance’, in der sie diagonal durch den Raum sprang. Als sie wieder zu dem Ringlicht lief, erklang ,Wrecking Ball’ von Miley Cyrus. Sie brachte das Ringlicht in die Mitte der Bühne und stand still dahinter. Gleich danach steckte sie ihren Kopf zwischen die Beine des Stativs. Diese Pose sollte symbolisieren, dass selbst wenn Apps wie TikTok viele junge Menschen dazu inspirierten, zu tanzen und dem Tanz mehr Visibilität zu geben, bringt es gleichzeitig bestimmte Einschränkungen mit sich. Es kann für einen Moment unterhaltsam sein, jedoch es ist anders, wahre Tänzer*innen auf der Bühne zu sehen und in diesem Moment präsent zu sein.
Wenn wir Tanz, beispielsweise in einem Theater, sehen, spüren wir die Energie und Passion, die auf uns ausgestrahlt werden. Unsere Bewunderung für Kunst hält auch länger als 10 Sekunden, wenn wir sie persönlich erleben. Wir schätzen die ganze Arbeit, die da hineingesteckt wurde, weil wir da sind und die Reise miterleben, auf die uns die Künstler*innen mitnehmen. Carrere brachte das Stück zu Ende, indem sie das Ringlicht in ihren Händen hielt. Ihr Körper strahlte Macht aus, denn sie weiß, dass unabhängig davon, ob TikTok unser Leben immer noch beeinflussen wird, werden die Fülle und Kapazität des
Tanzes nie auf einem kleinen Handybildschirm zu bannen sein.
These days, sitting in a live theatre as an audience member has become foreign. Keeping your attention solely focused on what’s in front of you can be a challenge. We’ve become accustomed to checking our phones every few minutes, performing the act of scrolling with a lack of urgency, but rather a sense of necessity. This habit, turned addiction, has altered the way we interpret information. TikTok specifically has changed how dance can be viewed as an art form.
Professional dancers, like Julie Carrere are used to having to clarify what it means to work as a dancer. Once the topic is brought up, the conversation usually goes something like, “Oh, so you’re a ballerina?!”, insert an awkward laugh before replying, “No, I did some ballet when I was younger, but I’m a contemporary dancer.” Insert a confused facial expression, followed by asking, “What’s contemporary dance?”, and so on… of course unless they actually are a ballet dancer. However, now “I’m a TikTok dancer" has been added into the mix. But why? What makes Tiktok dances and dancers so popular, and what makes them go viral? These are the types of questions that Carrere asked herself while she was creating her piece, and it is her personal, theatrical exploration of this new reality.
As we in the audience sat wondering why a ring light with a long-haired red wig hanging from it occupied the left corner of the stage, the piece started rather abruptly with “Beso” by Rosalía and Rauw Alejandro blasting through the speakers. Immediately catching her audience's attention, Carrere entered from the left side of the stage and began dancing, while lip-syncing to the song. Her body language was sometimes ‘ironically’ sensual, and seemed to imitate the mostly frontal, fast changing, small movements a TikTok dancer would usually perform. After dancing for the entire 3:15 minute length of the song, and provoking a few laughs from her audience, the vibe suddenly changed as a feminine voice with an Aussie accent began to tell their traumatic experience of buying their first bra at Target with their mom. Carrere began to dance to the story, miming and acting out each sentence. The storyteller made it clear that at the time, the thought of figuring out their chest size and buying a bra terrified them. Despite this, their mother had forced them to, reasoning that one could only be considered a ‘true lady’ once they start to wear one.
Inserting this voiceover seemed to comment on the unspoken rules women have only more in recent decades been more vocal about ignoring. The term lady almost feels outdated, and yet, when we think of one, many still have the same image in mind: perfect skin, a pretty face and long hair. Some of the most famous TikTok stars, such as Addison Rae, or Charli D’Amelio fit this ‘ideal’. In combination with their inherent Western beauty, flirtatious smiles and suggestive movements, it’s no wonder why some TikTok dancers are so popular. Through these little screens, we feel as if we know them, and react to these people, or their dances, in ways that perhaps in real life would seem absurd. In fact, Carrere invited her audience through the program to vocalize their reactions, but not surprisingly, most remained quiet, somehow not wanting to offend or interrupt the performance. Although, when we are separated by a screen, even if we react to something online, the reaction doesn’t always last long. Due tooverstimulating ourselves, overtime our attention spans have shortened, and once no longer entertained, we scroll onto the next thing.
Having said that, Carrere’s performance felt like scrolling through a compilation of live TikTok’s with an underlying theme of both irony and curiosity. She kept our attention by varying the lengths of the scenes. She incorporated famous TikTok songs such as the sped up version of Miguel’s “Sure Thing”, and other voiceovers, including one in the commonly used Siri voice which talked about how to get someone you love to love you back. According to the automated voice, the answer was to download the audio, which encouraged a couple laughs from the audience.
Another scene that stood out was when her movement range started to increase, and some more upbeat music started to play through the speakers. After a repeated sequence of circling and throwing her arms, crouching down and then gesturing for more with the tips of her fingers, she began to redraw our attention to the ring light with the red wig that still remained in the corner. She performed a slow footwork pattern and gradually made her way over to the light. She placed the wig on her head, hair covering her face, and took a stance with her back facing the audience, softly swaying her hips. At this point, some eerie rock music was playing and the contrast between her softness and the music was captivating. Suddenly, another version of “Beso” started to play through the speakers, but this time the audio sounded a bit off. In relation to the music change, Carrere began to dance in a more carefree way. Her movements had real shapes, dynamics, and extended past the limits a screen would contain a TikTok dancer to.
After taking the time to break free from her imaginary restrictions, Carrere went down onto all fours, her movements becoming quieter and softer. Finally, she sank all the way to lie face down on the floor. Though shortly after, an even faster version of “Sure Thing” began to play.
Gradually, Carrere started to make the small movements in her body more visible to us. Dancing to the lyrics, she remained facedown on the floor for some time. It felt as if she were speaking of the moments we have where we should be going to sleep, but continue to scroll, even though we’re no longer consciously taking in the information we’re watching.
Following this calmer scene, the energy was high once more as Carrere performed a skipping sequence to Lady Gaga’s ‘Just Dance’, traveling in diagonals across the stage. Then a version of Miley Cyrus’ “Wrecking Ball” started to play as she walked over to the ring light, picked it up, and carried it to the center. She stood still behind it for a moment, then crouched down, sticking her head between the legs of the tripod. This pose seemed to symbolize that though it is a beautiful thing that the app has brought dance into so many young people’s lives, and inspired them to move, it has its restrictions. It can entertain for a while, but it’s not the same as being in the same present moment as a dancer performing for you live. With the wig covering her face, Carrere took away the superficial layer that dominates our decisions of who keeps our attention. When we see dance in person, we can feel the energy and the passion it exudes. It often lasts longer than ten seconds to a minute and you can appreciate the amount of work it takes because you’re there, enduring what they’re feeling right there with them. Carrere finished her solo by holding the ring light in her hands. Her body projected power, knowing that whether ornot TikTok continues to influence us, the capacity of dance itself will never be confined to a screen.