Text zu „reinkommen“ (2. Dezember 2022) von Adèle Aïssi-Guyonins Deutsche übersetzt von Auro Orso

 


Am 2. Dezember präsentierten Matilde Flor Usinger und Eva Weibel nach ihrer Residenz im ada Studio eine offene Probe ihrer Arbeit.


Ihre Präsentation lud uns dazu ein, den aktuellen Stand ihres Forschungsprozesses im Bereich der körperlichen Interaktionen zu erleben und zu entdecken. Es war eine Artikulation verschiedener Ergebnisse, welche sie bei der Erforschung dieses Themas erzielten. Ihre Arbeit ist eine Forschung im wahrsten Sinne des Wortes: Sie nutzten diese Zeit als Labor, um zu experimentieren, auszuprobieren, zu spielen, Ergebnisse, Antworten oder weitere Fragen zu finden. Sie wählten Körperlichkeit als Ausgangspunkt, um verschiedene Möglichkeiten zu entwickeln, wie sie mit ihren Körpern miteinander (oder gegeneinander)
interagieren können. Auf diese Weise erkunden sie Interaktionen als eine Reihe von Mechanismen durch Berührung, Schieben, Ziehen, Gewichtsverlagerung. Und wie in einem Forschungslabor gehen sie von verschiedenen Ausgangspunkten aus, die sie entwickeln, entfalten, analysieren und komplexer gestalten. In dieser Präsentation teilten sie die Ergebnisse dieser Experimente in verschiedenen kurzen Sequenzen, die sich jeweils auf einen Aspekt der Forschung konzentrierten.


Die beiden Performerinnen beschlossen, sich auf zwei Hauptkategorien der Interaktion zu konzentrieren: Stoßen und Ziehen, die sie in fünf kleinen Sequenzen, in denen ihre Körper wie lebendige Magnete ständig interagieren, sich ineinander verschlingen, sich gegenseitig anziehen und abstoßen, in unterschiedlichem Rahmen entwickelten.
Der erste Teil konzentrierte sich auf den Akt des Ziehens, der zweite auf den des Stoßens und zeigte die unterschiedlichen Auswirkungen dieser beiden gegensätzlichen Gesten (jemanden näher an sich heranzuführen oder sich von ihm zu entfernen). Im dritten Teil spielten sie sowohl mit Schieben als auch mit Ziehen. Dann bauten sie mehr Handlungsspielraum für die Person ein, die geschoben oder gezogen wird: Sie konnte dieser Aktion entweder folgen oder sich ihr widersetzen. Schließlich forderten sie das Publikum auf, sich auf die möglichen Absichten zu konzentrieren, die hinter diesen körperlichen Bewegungen stehen.
In all diesen Teilen konnte ich mehr und mehr sehen, wie sich die Dynamik des Leitens und Folgens, des Gegengewichts, des Handelns und der Hilflosigkeit entwickelte. Die starke Verbindung zwischen den beiden Performenden war sehr offensichtlich, ihre Freude am gemeinsamen Erkunden erlaubte es ihnen, auch komplexere Beziehungsdynamiken zu erkunden. Sie befanden sich stets an der Schnittstelle zwischen Arbeit und Spiel, zwischen gegenseitiger Unterstützung und gegenseitiger Täuschung. Diese Grenze zwischen Kommunikation und Misskommunikation, zwischen Miteinander und Gegeneinander wurde immer wieder verwischt und neu definiert: ist es eine Umarmung oder ein Kampf? Ist eine Geste fürsorglich oder gewalttätig? Wann wird eine Berührung zärtlich oder überwältigend? Wann ist eine Bewegung helfend oder beherrschend für die andere Person?


Es war interessant zu sehen, wie die verschiedenen Einführungen zu jeder Sequenz in den performativen Rahmen integriert wurden. Sie erläuterten als Performerinnen nicht lnur jeden Teil und präsentierten ihn. Die Erklärungen und Präsentationen waren, mit einer Prise Humor, auch irgendwie Teil der Performance. Auf diese Weise hatte ich das Gefühl, nicht nur den Inhalt ihrer Forschung zu sehen, sondern auch einen kleinen Teil des Labors, in dem das Forschungsthema selbst Teil des Inhalts wurde. Es erinnerte mich ein wenig an die "conférences gesticulées", ein französisches Theatergenre, das eine Art Gesten-Performance ist, ein dramatisierter Vortrag, der die Form eines Theaterstücks annimmt. Matilde und Eva waren nicht nur damit beschäftigt, zu recherchieren, sondern auch einen Weg zu finden, diese Praxis zu teilen, zu artikulieren und ihr eine Form zu
geben; sie waren damit beschäftigt, ein richtiges Bewegungslabor zu schaffen. Im Gegensatz zu dem, was sie anfangs ankündigten - nämlich, dass sie glücklich waren, Zeit für eine Recherche ohne Leistungsdruck zu haben -, konnte ich sehen, wie das Format einer Labor-Show zu einem performativen Ergebnis wurde.


Sie waren außerdem bemüht, das Publikum in den Prozess einzubeziehen und fragten, welche Arten von Beziehungen, (Miss-)Kommunikationen und Geschichten sich beim Betrachten dieser Bewegungsabläufe bildeten. Dies ist ein weiterer sehr wichtiger Punkt dieser Arbeit: Sie zeigt, wie sehr Körper und Körperlichkeit Beziehungen und soziale Interaktionen schaffen. Ohne Worte entfalteten sich bereits viele verschiedene Spiele von Intimität, Spannung, Komplizenschaft und Macht. Dieser Tanz lud mich ein, neue Bedeutungen zu interpretieren, zu projizieren und zu lesen, in einem sich ständig entwickelnden und sich verändernden Spiel, in dem es darum geht, neue Wege der Beziehung zueinander zu finden. Ich konnte sehen, wie die beiden Performerinnen Fürsorge, Toxizität, Liebe, Hilfe, Verlassenwerden, Angst und Freude verkörperten. Auf diese Weise boten sie ihre Körper als Projektions-, Vorstellungs-, Interpretations- und Erinnerungsräume an und erlaubten uns als Publikum, Teil dieses Labors zu sein und an dieser Forschung teilzunehmen.

 

 

On the 2nd of December, Matilde Flor Usinger and Eva Weibel presented an open rehearsal of their work after their residency at ada Studio.

 

Their presentation invited us to witness and discover the current state of their process of research around physical interactions. It was an articulation of different results they came to while exploring this topic. Their work is a research, in the fullest sense: they used this time as a laboratory to experiment, try out, play, find results, answers, or more questions. They chose physicality as a starting point, in order to develop different ways of interacting with (or against) each other with their bodies. In this way, they explore interactions as a series of mechanisms through touch, pushing, pulling, weight exchanges. And, like in a research lab, they take different points of departures, which they develop, unfold, analyze and complexify. In this presentation, they shared the results of this experimentation in different short sequences, each focusing on one aspect of the research.

 

The two performers decided to focus on the two main categories of interactions : pushing and pulling, developing them in different setting through five little sequences, in which their bodies, like alive magnets, were constantly interacting, intertwining, attracting and rejecting each other.

The first section focused on the act of pulling, the second one one pushing, showing the different effects of these two opposite gestures (taking someone else closer to or further away from oneself). In the third part, they played with both pushing and pulling. Then, they integrated more agency for the person receiving the push and the pull : they could either follow or go against this action. Finally, they asked the audience to focus on possible intentions underlying behind these physical movements.

In all of these parts, more and more, I could see the dynamics of leading/following, counterbalance, agency and helplessness developing. The great complicity between the two performers was very obvious, their joy of exploring together allowed them to also explore more comlex relational dynamics. They were always on the edge of working and playing a game, of supporting each other and tricking each other. This limit of communicating and miscommunicating, of being together and against each other, was always blurried and redefined: is it a hug or a fight ? Is a gesture caring or violent ? When does touch become tender or overwhelming? When is a movement helping or taking power over the other person?

 

It was interesting to see how the different introductions to each sequence were integrated into the performative frame. They were not only, as performers, presenting each part and showing it, but the explanations and presentations, with a slight tone of humor, were also somehow part of the performance. In that sense, I felt like I was not only witnessing the content of their research, but also a little laboratory-piece where the topic of research itself became part of the content. It reminded me a bit of the «conférences gesticulées», a French theatre genre that is a sort of gesture performance, a dramatized lecture that takes the form of a theatre piece. Matilde and Eva were not only busy with researching but also with finding a way of sharing and articulating this practice and giving it a form, busy with creating a proper movement laboratory. So, in contrary to what they announced in the beginning – the fact that they were happy to have time for a research without the pressure of a result –, I could see how the format of a laboratory show became a performative outcome.

 

They were also eager to integrate the audience in the process and asked what types of relationships, (mis)communications, stories emerged from seeing these sequences of movement. This is another very important point of this work: it shows how much bodies and physicality create relationships and social interactions. Without any words, many different games of intimacy, tension, complicity and power were already unfolding. This dance was calling me to interpret, project and read new meanings, in a constantly evolving and ever changing game of finding new ways of relating to each other. I could see care, toxicity, love, help, abandonment, fear and joy being embodied in the two performers. In that sense, they were offering their bodies as spaces of projection, imagination, interpretation and memories, allowing us, as an audience, to be part of this laboratory, to be involved in this research.


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

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