Text zu „reinkommen“ (30. September 2022) von Adèle Aïssi-Guyon, ins Deutsche übersetzt von Auro Orso
«Was wird
gespielt?»
Ich bin ein Teenager, sitze mit Freunden am Tisch und spiele Karten, schreie und reagiere auf zufällige Zahlen und Zahlen, gewinne und verliere ohne jede Logik - so scheint es. Ich beobachte sie
und versuche, den Sinn des Spiels zu verstehen. Der Name dieses Spiels ist «What's the game». Ziel des Spiels ist es, dass ich herausfinde, was die Regeln dieses Spiels sind. Es ist ein Spiel
über das Spiel selbst.
«Was passiert?»
Ich arbeite ein Jahr lang überwiegend mit Menschen, deren Muttersprache Arabisch ist, und hänge mit ihnen ab. Ich verbringe viele Stunden inmitten von Gesprächen, in denen ich nichts verstehe. Es
ist ein verwirrendes, aber auch ein angenehmes Gefühl, die Rhythmen und Melodien der Stimmen und die Choreografien der Menschen zu beobachten, die aus Gründen, die sich mir völlig entziehen, in
Lachen oder Wut ausbrechen.
«Wie ist der Ablauf?»
Ich befinde mich in einem Tanzworkshop und erlebe diese improvisatorische Praxis: alle
Tanzenden befinden sich im Raum und spielen dasselbe Spiel, aber es gibt keine vorher
festgelegten Regeln, und sie müssen herausfinden und verstehen, welches die Regeln des
Spiels sind, das sie bereits alle zusammen spielen, wobei die Projektionen und die Fantasie jeder Person Teil desselben Raums sind.
Als ich die offene Probe von Katerina Delakoura und Magdalena Meindl im Rahmen von
reinkommen sah, kamen mir all diese Erinnerungen wieder in den Sinn. Genauer gesagt,
kommen mir all diese Fragen in den Sinn.
Welches Spiel wird gespielt?
Wie ist der Ablauf?
Wie lauten die Regeln?
Welche innere, verborgene Logik teilen die beiden Darstellenden, die ich nicht kenne oder verstehe, deren
Präsenz ich aber deutlich spüre?
Welches geheime Protokoll regelt ihre Bewegungen, ihre Bahnen und ihre Beziehung zu
ihrer Umgebung und zueinander?
Der Performance-Raum wird von einer geometrischen Form mit weißem Klebeband auf dem Boden eingerahmt. Sie erinnert mich an den Spielplatz eines Schulhofs oder an die Skizze eines Hauses. Das
Publikum sitzt rundherum. Die beiden Performer beginnen außerhalb dieses Raumes und betreten ihn dann. Sie fangen an, sich im Raum zu entwickeln, und ich denke, sie sehen aus wie zwei Kinder, die
ein Spiel spielen: sie sind völlig in ihre eigene Welt eingetaucht, unsichtbar für mich, aber sehr real für sie, sie sind sehr ernst und engagiert in diesem Spiel, sie langweilen sich oder werden
aktiv, sie durchlaufen verschiedene Zustände der Konzentration.
Die gesamte Zeit über frage ich mich: Was-ist-das-Spiel? Worum-geht-es?
Es liegt so nah, aber ich kann es nicht fassen. Ich kann nicht sehen, was die Performerinnen sehen, aber ich kann sehen, dass sie es sehen. Manchmal gehen sie, manchmal verwandeln sie sich in
vierbeinige Kreaturen. Ihre Bewegungen sind sowohl sehr abstrakt als auch an der Grenze zur Nachahmung. Ich habe das Gefühl, dass sie nicht nur tanzen, sondern etwas in diesem negativen Raum tun,
der dreidimensional wird. Ich weiß nicht, welche Logik sie bewegt, was ihre Entscheidungen beeinflusst, aber es ist mir klar, dass es für sie klar ist. Sie sind mit etwas Präzisem, fast
Wiederholendem beschäftigt, das für meine Augen unsichtbar bleibt. Etwas Bestimmtes, das für mich aber nicht wirklich zu verstehen ist.
Ihre Bewegungsabläufe scheinen impliziten Gesetzen zu folgen: In einem Raum gehen und tanzen sie vor und zurück, in einem anderen setzen oder legen sie sich hin, und in dem kleinen Kreis in der
Ecke neben mir bewegen sie sich jedes Mal ein- oder zweimal, wenn sie dort ankommen.
Das Klebeband auf dem Boden scheint manchmal eine imaginäre, unüberwindbare Wand
darzustellen, die Korridore wie in einem Videospiel bildet, manchmal ist es ein niedriges
Hindernis, das man übertreten kann, und manchmal wird es auf das zurückgeführt, was es in Wirklichkeit ist, eine Linie, die man überschreiten oder ignorieren kann.
Auch die Beziehung zwischen den beiden Performenden nimmt unterschiedliche Formen an. Tanzen sie zusammen oder koexistieren sie nur in diesem Raum? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass sie es wissen. Sie ignorieren sich gegenseitig, sie spielen miteinander, sie kommunizieren miteinander, indem sie auf den Boden schlagen, ein oder zwei Taps, sie sehen sich nicht, aber sie gehen ähnliche Wege, die sich plötzlich zu einem Ganzen zusammenfügen und extrem kompliziert sind.
Das Gefühl, nicht ganz zu verstehen, ist zwar verwirrend, aber auch angenehm. Denn ich
habe das Gefühl, dass sie mit etwas beschäftigt sind und wissen, was sie tun. Und so habe ich das Gefühl, dass es in dem Stück nicht darum geht, dass ich verstehe, was dieses Etwas ist. Und ich
hoffe, dass sie weiter in diese Richtung arbeiten und das Selbstvertrauen haben, ihr eigenes Spiel noch besser zu beherrschen.
Im Publikumsgespräch im Anschluss an die Präsentation ihrer Arbeit wurden viele der Fragen, die ich mir gestellt hatte, von den Künstlern formuliert und teilweise beantwortet. Ich beschloss,
diesen Text auf der Grundlage der Eindrücke zu schreiben, die ich beim Betrachten des Stücks gewann, und zog es vor, die Informationen, die ich später in der Diskussion erhielt, nicht mit
einzubeziehen. So interessant diese Erklärungen auch waren, ich habe es wirklich genossen, in dieser unbekannten Zwischenzone zu bleiben, an der ständigen Grenze des Verstehens, immer kurz davor,
es zu verstehen, aber nie wirklich zu erfassen oder zu begreifen. Das ist es, was meine eigene Imagination offen hielt, während ich ihre Entfaltung beobachtete. Was meine Aufmerksamkeit erregte,
was mich als Zuschauerin aktiv werden ließ, ständig und bewusst suchend und fragend (und das Spiel spielend!), war genau diese Unfähigkeit zu verstehen... was ist das Spiel?
Für mich ist die Antwort, dass ich keine Antwort brauche!
«What's the game?»
I am a teenager, sitting at a table with friends playing cards, screaming and reacting to random numbers and figures, winning and loosing without any logic – as it appears. I watch them, trying to make sense of it. The name of this game is «what’s the game». The goal of the game is for me to find out what the rules of this game are. It is a game about the game itself.
«What’s happening?»
I am spending one year mainly working and hanging out with people whose mothertongue is Arabic. I spend hours and hours surrounded by conversations I do not understand anything about. It is a puzzling, yet pleasant feeling to observe the rhythms and melodies of the voices and the choreographies of people bursting into laughter or anger for reasons that elude me completely.
«What’s the score?»
I am in a dance workshop and experiment this improvisational practice: all dancers are in the space, playing the same game, but no rule has been pre-established and they have to figure out and understand what are the rules of the game they are already all playing together, each one’s projections and imagination being part of the same space.
When watching the open rehearsal of Katerina Delakoura and Magdalena Meindl in the frame of reinkommen, all these memories come back to my mind. And more precisely, all of these questions keep floating around.
What’s the game?
Whats the score?
What are the rules?
What inner, hidden logic do the two performers share, that I don't know or understand, but whose presence I can clearly feel?
What secret protocol is ruling their movements, trajectories and their relationship to their surroundings and to each other?
The space of the performance is framed by a geometrical shape marked with white tape on the floor. It reminds me of the playground of a school yard, or of the sketch of a house. The audience is sitting all around. The two performers start outside of this space and then enter it. They start evolving in the space, and I think they look like two children playing a game: they are totally dived in their own world, invisible to me but very real to them, they are very serious and committed to this game, they get bored or activate, going through different states of focus.
All this time, I keep asking myself: what-is-the-game? What-is-the-score?
It is so close but I cannot grasp it. I cannot see what the performers see but I can see they see it. Sometimes, they walk, sometimes they turn into four-legged creatures. Their movements are both very abstract and at the limit of mimicking. I get the feeling they are not just dancing, but doing something in this negative space that becomes three-dimensional. I don't know what logic moves them, what triggers their decisions, but it is clear to me that it is clear for them. They are busy with something precise, almost repetitive, that remains invisible to my eyes. Something defined, but impossible for me to really understand.
Their trajectories seem ruled by tacit laws: in one space, they walk and dance back and forth, in another one, they sit or lay down, and they move around the small circle at the corner next to me once or twice everytime they get there.
The tape on the floor sometimes seems to represent an imaginary unbreakable wall, forming corridors like in a video game, other times it is a low obstacle that can be stepped over, and sometimes it is brought back to what it is in reality, a line that can be crossed or ignored.
The relationship between the two performers also takes different shapes. Are they dancing together, or just coexisting in this space? I don't know, but I know they do. They ignore each other, they play with each other, they communicate to each other by hitting the floor, one or two taps, they don’t see each other but follow similar paths, suddenly they are together and extremely complicit.
The feeling of not totally understanding is, yes, puzzling, but yes, also pleasant. Because I feel they are busy with something and know what they are doing. And thus, I feel like the piece is not about me getting what this something is. And I hope they will keep working in that direction, having the confidence to own their own game even more.
In the Q&A following the sharing of their work, many of the questions I asked myself were formulated, and partly answered by the performers. I decided to write this text from the impressions I got when watching the piece, and preferred not to include the information I got later on in the discussion. As interesting as these explanations were, I really enjoyed staying in this unknown in-between zone, on the constant edge of understanding, always about to get it but never really catching or grasping it. This is what kept my own imagination open while watching theirs unfolding. What caught my attention, what made me active as an audience, constantly and consciously searching and questioning (and playing the game!), was this very inability to understand... what's the game?
To me, the answer is that I don’t need an answer!