Text zu „NAH DRAN extended: MISSED PIECES I“ (12.-14. November 2021) von Gast-Studioschreiberin Adèle Aïssi-Guyon, ins Deutsche übersetzt von Auro Orso

 

 

On Friday, November 12th, 2021, Akiles, Elvan Tekin and cobracobra (Sharón Mercado Nogales and Kiana Rezvani), shared their works in the frame of “NAH DRAN extended: MISSED PIECES I. I came to see them without knowing anything about their topic. I always find that it is an interesting experience to see different performances in a row, in the same evening. Even when they are very different, a particular meaning can emerge by the simple fact that they are following each other. I like experiencing how independent works can relate to each other in my perception as an audience member. In that case, I felt a very beautiful resonance between the three performances, as if they were echoing each other.

 

In the first performance, “Trance” by Akiles, the performer finds himself in a “forest” of torches hanging from the ceiling. First in the dark, he lights one torch after the other and dances under their circular shower of light, to a soundscape made of overlapping noises (street sounds, helicopters…) and voices related to social fights (Greta Thunberg’s speech, people screaming “Refugees welcome”, the song of Las Tesis “Un violador en tu camino”…) This massive sonic landscape contrasts with the lonely, vulnerable and half-naked body of the dancer, who seems to be successively embodying these sounds or surrendering to them. Is this the soundtrack of the world we live in, of our collective history of fights, suffering and struggling? Can the body become the receptacle of all these voices? When do these calls for freedom become too much to bear for a single individual?

 

The relationship between the individual and collective memory is also very present in the way I perceive the second performance. “To be a fish in a raki bottle”, by Elvan Tekin, starts with the performer’s body lying on the floor, a colored scarf covering her head. After “waking up” dancing in a deconstructive way to the soothing sound of a crackling fire, the dancer stands up and raises her fists. Then, as a slow music in Turkish starts, she takes her scarf off and makes a series of very evocative poses, first immobile and then moving in circles: she raises her fists, uses the scarf as a weapon, ties it like handcuffs to her wrists, hides her face, holds it with her arms wide open, turning more and more, like dancing at a celebration. In this whole sequence, the calm music is replaced electronic waves of sounds with break rhythms. This circular dance appears to me as the remembrance of intimate and collective memories, as if images were emerging out of this circular sounds and movements: weddings, war, grief…

 

These intertwined links between remembrance, sound and movement is also one of the red lines of “Earth Beings”, by cobracobra. Starting in a darkness that is only interrupted by lightnings or the light of a torch, the silhouettes of the two performers, which we can barely perceive, bend and swing, and then start stepping in the same rhythm. We can also hear the sound of steps in the nature and wind. As the performers move around the space in the dark, the ongoing rhythm of the steps change. When the light turns on, I see that they wear heavy shoes that seem to be made of stone: this costume turns them into “earth beings” and amplifies the sound of their steps on the floor. Slowly, the steps turn into collective dance movements. These footsteps create an intimate connection between nature (the material of the shoes and the sound they make) and culture (the dance heritage and the rhythms performed). This aspect is reinforced by the huge projection of a desertic and hilly landscape on the walls, covered by the shadows of the two performers still dancing in the same rhythm. In this piece, the body turns into a natural element. It is a landscape where rhythms emerge, but it is also a tool for recreating images, sounds and memories, like in the very end, as they recreate the sound of steps by shaking big bags of gravel.

 

 

I think that these three pieces explore in their own way the sonic and visual dimension of memory and of its embodiment. They all play with what is showed and what remains unseen, and use circularity of movement and sound. I leave the studio feeling how powerful auditory memory is, how visual and palpable sound can be. After watching these performances, I feel like the body is a landscape made of sounds, movements, images, voices. There, personal and collective memories appear in a never-ending circular movement, sometimes provoking a change in the body, sometimes emerging from a change in the body. Memory is like a wind burying or uncovering the ground. Sometimes, these images and sounds are just an echo between two mountains. This landscape of remembrance has secrets, some are to remain unseen, ungraspable.

 

 

Am Freitag, dem 12. November 2021, stellten Akiles, Elvan Tekin und cobracobra (Sharón Mercado Nogales und Kiana Rezvani) ihre Werke im Rahmen von NAH DRAN extended: MISSED PIECES I vor. Ich besuchte die Vorstellung, ohne etwas über das Thema zu wissen. Ich halte es immer für eine interessante Erfahrung, am selben Abend verschiedene Aufführungen hintereinander zu sehen. Selbst wenn sie sehr unterschiedlich sind, kann durch die einfache Tatsache, dass sie aufeinander folgen, eine besondere Bedeutung entstehen. Ich erlebe gerne, wie sich unabhängige Werke in meiner Wahrnehmung als Publikum zueinander verhalten können. In diesem Fall habe ich eine sehr schöne Resonanz zwischen den drei Aufführungen gespürt, so als würden sie gegenseitig ineinander widerhallen.

 

In der ersten Performance, Trance von Akiles, befindet sich die performende Person in einem Wald von Fackeln (Taschenlampen), die von der Decke hängen. Zunächst im Dunkeln, zündet er eine Fackel nach der anderen an und tanzt unter ihrem kreisförmigen Lichtregen zu einer Klanglandschaft aus sich überlagernden Geräuschen (Straßengeräusche, Hubschrauber...) und Stimmen, die mit sozialen Kämpfen zu tun haben (die Rede von Greta Thunberg, Menschen, die „Refugees welcome“ schreien, das Lied von Las Tesis „Un violador en tu camino“...). Diese massive Klanglandschaft steht im Kontrast zu dem einsamen, verletzlichen und halbnackten Körper des Tänzers, der diese Klänge nach und nach zu verkörpern oder sich ihnen hinzugeben scheint. Ist dies der Soundtrack der Welt, in der wir leben, unserer kollektiven Geschichte der Kämpfe, des Leidens und des Strebens? Kann der Körper zum Träger all dieser Stimmen werden? Wann werden diese Rufe nach Freiheit für einen einzelnen Menschen zu viel?

 

Die Beziehung zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis ist auch sehr präsent in meiner Wahrnehmung der zweiten Performance. „To be a fish in a raki bottle“ („Ein Fisch in einer Raki-Flasche sein“) von Elvan Tekin beginnt damit, dass der Körper der Performerin auf dem Boden liegt und ein farbiges Tuch ihren Kopf bedeckt. Nach dem „Aufwachen“ tanzt die Tänzerin auf dekonstruktive Weise zum beruhigenden Klang eines knisternden Feuers und steht danach auf und hebt die Fäuste. Dann, als eine langsame türkische Musik einsetzt, nimmt sie ihr Tuch ab und nimmt eine Reihe von sehr ausdrucksstarken Posen ein, zuerst unbeweglich und dann in kreisenden Bewegungen: Sie hebt die Fäuste, benutzt das Tuch als Waffe, bindet es wie Handschellen an ihre Handgelenke, verbirgt ihr Gesicht, hält es mit weit geöffneten Armen und dreht sich immer mehr, als würde sie auf einem Fest tanzen. In dieser ganzen Sequenz wird die ruhige Musik durch elektronische Klangwellen mit Break-Rhythmen ersetzt. Dieser kreisförmige Tanz erscheint mir wie die Rückbesinnung auf intime und kollektive Erinnerungen, als würden aus diesen kreisförmigen Klängen und Bewegungen Bilder entstehen: Hochzeiten, Krieg, Trauer…

 

Diese Verflechtung von Erinnerung, Klang und Bewegung ist auch einer der roten Fäden von „Earth Beings“ von cobracobra. Die Silhouetten der beiden Performenden, die wir kaum noch vermögen wahrzunehmen, biegen und schwingen sich in der Dunkelheit, die nur von Blitzen oder dem Licht einer Fackel unterbrochen wird. Anschließend beginnen sie im gleichen Rhythmus zu stampfen. Wir können auch das Geräusch der Schritte in der Natur und im Wind hören. Während sich die Performenden im Dunkeln durch den Raum bewegen, ändert sich der Rhythmus der Schritte ständig. Als das Licht angeht, sehe ich, dass sie schwere Schuhe tragen, die aus Stein zu sein scheinen: Dieses Kostüm macht sie zu „Erdwesen“ und verstärkt den Klang ihrer Schritte auf dem Boden. Langsam verwandeln sich die Schritte in kollektive Tanzbewegungen, die eine enge Verbindung zwischen der Natur (dem Material der Schuhe und dem Klang, den sie erzeugen) und der Kultur (dem tänzerischen Erbe und den dargebotenen Rhythmen) herstellen. Dieser Aspekt wird durch die riesige Projektion einer Wüsten- und Hügellandschaft an den Wänden verstärkt, die von den Schatten der beiden Performenden, die immer noch im gleichen Rhythmus tanzen, verdeckt wird. In diesem Stück wird der Körper zu einem natürlichen Element. Es ist eine Landschaft, in der Rhythmen entstehen, aber er ist ebenso ein Instrument, um Bilder, Klänge und Erinnerungen zu schaffen, wie beispielsweise ganz am Ende des Stücks, als sie das Geräusch von Schritten durch das Schütteln großer Kiessäcke nachahmen.

 

 

Ich denke, dass diese drei Stücke auf eigene Weise die akustische und visuelle Dimension der Erinnerung und ihrer Verkörperung erkunden. Sie alle spielen mit dem, was gezeigt wird und was ungesehen bleibt, und nutzen die Zirkularität von Bewegung und Klang. Ich verlasse das Studio mit dem Gefühl, wie mächtig das auditive Gedächtnis ist, wie visuell und greifbar Klang sein kann. Nachdem ich diese Performances gesehen habe, habe ich das Gefühl, dass der Körper eine Landschaft aus Klängen, Bewegungen, Bildern und Stimmen ist. Dort tauchen persönliche und kollektive Erinnerungen in einer nicht enden wollenden Kreisbewegung auf, die manchmal eine Veränderung im Körper hervorruft, manchmal aus einer Veränderung des Körpers hervorgeht. Die Erinnerung ist wie ein Wind, der den Boden vergräbt oder freilegt. Manchmal sind diese Bilder und Klänge auch nur ein Echo zwischen zwei Bergen. Diese Erinnerungslandschaft birgt Geheimnisse, manche bleiben ungesehen, ungreifbar.


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