Text zu „neworks“ (16./17. November 2019) von Johanna Ackva
THE WAKE – von und mit Xenia Taniko
Es passiert nicht allzu häufig, dass ich graues Novemberwetter als passend empfinde. Für die „immersive performative Situation“, zu der Xenia Taniko im Rahmen der Reihe neworks ins ada Studio einlädt, ist die dunkle Mischung aus Wolken, Nebel und Regen an diesem Wochenende aber genau der richtige Hintergrund. THE WAKE, „das Wachen“, ist nämlich seinem Gegenspieler, dem Schlaf, wenn nicht sogar dessen – wie man sagt – Bruder Tod, nah verwandt.
Das Wachen, um das es geht, ist kein Be- oder Über-wachen. Es ist keine, wie man vermuten könnte, Leistung der Augen oder gar ihres technologischen Derivats, der Kamera. Vielmehr ist dieses
Wachen hier ein Zustand halb geöffneter Lider. Ohnehin gibt es kaum etwas, das es im Auge zu behalten oder gar zu beschützen gälte. Im Gegenteil ähnelt die Bühne eher einer Mönchsklause, und der
Körper, der in der Mitte zwischen den Zuschauer*innen mit seinem Gewicht eine grobe Schaumstoffmatte zu Boden drückt, wirkt ebenfalls mönchisch: eine weite schwarze Hose versteckt seine Formen,
ein weißes, von innen nach außen gestülptes T-Shirt, kurzgeschorenes Haar. Raum und Körper schmücken sich nicht, tragen keine Schichten auf, um Geschichten zu erzählen. Es ist karg. Karg, aber
lebendig.
Unter dem anhaltenden Dröhnen von Eliane Radigues Stück Kyema, dem ersten Teil ihrer Trilogie de la Mort, das mit seinen Bässen die Scheinwerfertraversen zum Scheppern
bringt, beginnt Xenia Tanikos Reise durch eine für uns unsichtbare Landschaft verborgener Orte. Diese könnten ebenso in weiter Ferne wie nur wenige Millimeter unter der Haut liegen. Ein Zucken
der Lider, ein Zittern der Wangen, der Fingerspitzen; sie fahren durch den Körper, wenden das Innere nach außen und bringen uns mit den Geistern in Verbindung, die diese menschliche Hülle
bewohnen. Wie gebannt folge ich dem Sich-Aufrichten vom Liegen in den Stand, einem langsamen Prozess, der weniger dem Willen als dem Einfluss von Zauberhänden zu folgen scheint und den ersten
Teil der Arbeit bildet. Von der Schwere des Beckens gehalten, drücken die Arme den Oberkörper vom Boden ab. Die Füße testen ihre Tragkraft. Es ist ein Aufstehen, ja, aber kein Auf-wachen. Es ist
kein Übergang in einen anderen Zustand, der den, aus dem er kommt, beendet und hinter sich lässt. Das Wachen ist immerwährend, es bleibt.
Besonders bemerkenswert ist dabei Xenias Gesicht. Dem Publikum zugewandt, transportiert es eine Mimik, deren Zeichen ein Rätsel sind. Was sich öffnet ist weniger Mund als Höhle und das Lächeln,
welches diese von Zeit zu Zeit umspielt, nennt keine Gründe. Die geöffneten Augen verraten nichts – bleiben Fenster in eine neblige Landschaft, durch die hin und wieder ein Schatten huscht.
Welche andere Welt ist das, in die dieser Körper wortlos einlädt? Sein Wachen, Verweilen zwischen hier und f/dort, macht ihn zum Medium für eine nicht zu begreifende Fülle unterschiedlicher
Welten, in der fortwährend Leben und Tod ineinandergreifen.
Den zweiten Teil des Stücks bildet eine rezitativ gesungenen Litanei unzusammenhängender Begriffe. Zu meiner einzigen Irritation im Verlaufe des Abends, verstehe ich diese Wörter, die laut
Programmheft allesamt aus ein und derselben Spam-Email stammen, zunächst fast gar nicht. Später erscheint mir die Liste, die von „government“ bis „nude“, und von „dance“ bis „warranty“ reicht,
etwas lang und etwas unspezifisch. Was sagt das? Dass wir besessen sind von Informationen und Bildern, die das Internet einer reinen Profitlogik oder aber den belanglosesten Zufällen folgend an
uns heranträgt?
Abgesehen von den Fragen an den Inhalt und die Funktion des Texts fasziniert mich nach wie vor, wie weit die Türen und Tore zum „jenseits von hier und jetzt“ auch im zweiten Teil des Stücks offen
stehen. Kaltes blau-violettes Licht taucht Xenias Gesicht in eine Blässe, die Todesahnungen weckt und der Hall auf dem Mikrofon, der ihre Worte vervielfacht, lädt einen Chor unzähliger Stimmen
ein. Deren körperlose Geister schleichen sich unbemerkt unter das kleine Publikum und füllen den intimen Bühnenraum mit einer unheimlichen Präsenz.
In aller Konsequenz endet THE WAKE an der Schwelle der Tür, zwischen drinnen und draußen, und zeigt uns damit mehr als alles andere, dass Tore zu anderen Welten ständig und überall offen
stehen, zumindest einen Spalt breit und wenn wir wach genug für sie sind.