Text zu NAH DRAN 59 (8./9. Oktober 2016) von Alexandra Hennig

 

 

Würde mich jemand bitten, diesen Abend unter ein Motto zu fassen, ich würde mich aus dem Fenster lehnen und sagen: „Weit Weg von NAH DRAN“.

Ich bin auch schneller als erwartet bei den Werturteilen. Ich kann nicht anders. NAH DRAN 59 hat mindestens Fragen aufgeworfen, wenn nicht temporär meine Grundfeste als Zuschauerin ins Wanken geraten lassen. Und zwar insofern, als dass Theater auf der gegenseitigen Vereinbarung beruht, Teil einer zeitlich begrenzten (Leidens-)Gemeinschaft zu sein. Ich bin auch ganz froh, dass dieser Leitsatz aus dem ersten Semester Theaterwissenschaft ab und an unter Beweis gestellt wird.

Der Abend beginnt mit einem Duo von Jenny Döll und Andrew Wass, das den treffenden Titel „Reciprocal Affectation“ trägt. Die Wechselseitigkeit konzentriert bzw. erschöpft sich dabei zwischen den beiden Tänzer*innen, die ihre Contact Improvisation Künste so ungefiltert auf die Bühne bringen, dass der Rest an affection im Zuschauerraum (am andern Ende der Feedbackschleife) irgendwo zwischen erster und dritter Hebefigur verloren geht. In gedeckten Erdtönen gekleidet bewegen sie sich. Von und zu einander. Kehren sich ab, kommen aufeinander zu, berühren ihre Zehen, legen Köpfe auf Schultern ab, schauen sich an, laufen vor und zurück, quer über die Bühne, geben ab, nehmen an, verlagern ihr Gewicht. Was sich als dilettantische Beschreibung von Contact Improvisation tarnt, ist (m)eine aufrichtig gemeinte Frage nach der Aufführbarkeit dieser Tanztechnik im Allgemeinen. Natürlich ist das Fass nicht zu übersehen, das hier schon halb geöffnet ist und mitunter bodenlos. Auch, wenn es ein Unding ist, über eine ganze Ära der Tanzgeschichte und Vorreiter*innen wie Steve Paxton oder Simone Forti hinwegzugehen – an diesem Abend frage ich mich: Wie eigentlich (noch) solche Formen auf die Bühne bringen, ohne sich dem Vorwurf der Belanglosigkeit auszusetzen? Dabei muss ich hinzufügen: unter den 40 Zuschauer*innen im ada Studio war teils unverhohlene Begeisterung zu spüren. Ich gebe mich der Vermessenheit hin und behaupte, dass eben diese vor allem von Kolleg*innen und Schüler*innen ausgegangen ist, die über eigene Praxis mit einem geschärften Blick ausgestattet sind. Gerade als sich meine Zweifel auf die klassische Trennung von Zuschauer- und Bühnenraum verlagern und ich mir vorstelle, wir hätten nur besser barfuß im Kreis sitzen sollen, unternimmt das Stück doch noch den Versuch zu markieren, dass es hier um Kunst geht:
In Form einer übergroßen weißen Leinwand und einer Art Power-Point-Präsentation wird uns die Meta-Ebene serviert. Wörter und Silben tauchen auf, verschwinden wieder, hüpfen über die Bildfläche und ergeben ungeahnte Sinnzusammenhänge.

        da
vor                stellen
        stell
        dir
        vor
Vorstellung

Ich bin irritiert. Ein paar Momente später sitzen die beiden Tänzer*innen am Bühnenrand und halten Zettel in den Händen, die sie abwechselnd fallen lassen. Jetzt nochmal für alle zum Mitlesen. Sätze wie „Was nehme ich wahr, when I do take place?“ stehen da drauf. Berechtigt ist die Frage nach der Wahrnehmung allemal. Gleichzeitig haben sie es sich damit ein Stück zu leicht gemacht.

Es funktioniert eben doch nicht so gut, das Konzept am Ende einfach nachzuliefern. Die „Denkzettel“ markieren eine Unentschiedenheit: Sind wir in einer Contact-Impro Session gelandet oder schlummert irgendwo sowas wie Dramaturgie? Vielleicht sollte ich mal eine Impro-Klasse besuchen. Fürs Erste bin ich ziemlich un-touched davon gekommen.

Das zweite Stück dieses Abends beginnt und endet im Kerzenlicht, wobei ich die meiste Zeit im Dunkeln tappe. Die japanische Tänzerin und Choreografin Junko Okuda zeigt in „Silent Beat“ ihr tänzerisches Können, das Stärke und Fragilität zugleich beweist. Ihr Bewegungsvokabular entzieht sich immer wieder meiner Suche nach Zuordnungen. Zu einem klassisch anmutenden Musikstück bewegt sie sich ausladend grazil über die Bühne. Ausgebreitete Oberarme lassen mich an Pina Bausch denken, ihr Kostüm (eine Art hautfarbenes Nachthemd und eine Haube) sowie ihr Mienenspiel rufen Assoziationen an Butoh hervor. Drehend und wendend bewegt sich Junko Okuda durch den Bühnenraum – den Kopf nach oben oder suchend in Richtung einer Ferne. Insgesamt lässt das Solo einen Spannungsaufbau vermissen, läuft zeitweise ins Leere und unweigerlich schweife ich ab. Bemüht, dranzubleiben, wenn ihr Blick das Publikum sucht. Schattenspiel im Kerzenlicht, ein Prolog, in dem sie uns direkt anspricht: „Here is Berlin?“ schaffen eine wacklige Rahmung für die Frage, wohin die Reise geht. Am Ende steht Halbdunkel.

Eine klare Ausgangslage findet die dritte Arbeit „Extended Blue“ von Elma Riza, in der sie zusammen mit Mireia Aragonés als Performerin auftritt. Zu einer komplexen Soundkollage (Eric Wong) und mithilfe von blauen Tape-Streifen erschaffen die beiden verschiedene architektonische Gebilde im Bühnenraum, zu denen sie sich in Position bringen. Wir finden uns in einer Art performativer Installation wieder, wenn die Tänzerinnen in Blau ganz unaufgeregt über die Bühne gehen und Linien von den Wänden zum Boden ziehen. Das Ganze folgt dabei dem Rhythmus: Eine Tänzerin nimmt ein Tape auf, klebt es an die Wand oder auf den Boden, verharrt in einer Pose, wartet auf den Einsatz der anderen. Es entstehen interessante Konstellationen, wenn die beiden den Boden vermessen oder ihre Körper Parallelgebilde zum getapeten Raum formen. So folgen einzelne Tableaus aufeinander, die durch beständiges Flimmern, Rauschen und Wummern vom Soundteppich getragen werden. Das Konzept ist einfach und gut – ich frage mich aber auch hier, ob das ada Studio als Bühne so geeignet ist. Dieses Stück schreit danach, rauszugehen, eine Fabrikhalle zu be(k)leben und mindestens „site-specific“, wenn nicht wirklich extended zu werden.

Weit Weg von NAH DRAN und zurück zur (Leidens)-Gemeinschaft: gelitten wurde an diesem Abend wohl auf beiden Seiten. Während die Tänzer*innen darum bemüht waren, ihre Arbeit zu tun, kämpften einzelne Zuschauer*innen mit ihren Emotionen. Immer wieder stimmten Lacher, Geflüster und Ermahnungen ins Bühnengeschehen mit ein und überschatteten die künstlerische Arbeit. Was nach der Vorstellung zu berechtigtem Ärger, Diskussionen und fast hilflosen Erklärungen seitens der Störenden führte, habe ich zum Anlass genommen, um über die Verabredung „Theater“ neu nachzudenken. Wahrscheinlich ist es Zufall, dass sich ausgerechnet an diesem Samstag eine Gruppe von Leuten ins ada Studio „verirrt“ hatte, die eher nicht zum gängigen Zuschauer*innenkreis der Berliner Tanzszene gehörte und ihre Verunsicherung durch das Gesehene nicht anders äußern konnte. Gleichzeitig ist bezeichnend, dass alle drei Stücke die Frage nach ihrer Aufführbarkeit und Nähe/Ferne zu den Zuschauer*innen schon an sich aufgeworfen haben.

In jedem Fall hat dieser Abend daran erinnert, dass NAH DRAN mitunter ein sensibler Ort ist. Er hat auch bewiesen, dass wir es im Theater mit Beziehungen zu tun haben, die schonungslos auf die Probe gestellt werden können.


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

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