Text zu NAH DRAN 48 (24./25. Januar 2015) von Thomas Schaupp
Es ist selten wirklich leicht, Gemeinsamkeiten in den meist drei nacheinander im Rahmen von NAH DRAN präsentierten Arbeiten zu finden oder gar einen kuratorischen roten Faden zu entdecken, der
sich durch den Abend zieht. Bisher konnte ich mir aber doch zumeist einen Reim zusammenbasteln oder eine Intention erahnen, wenngleich diese doch so oder so immer auch schon eine Interpretation
zu sein vermochte. Aber die ist ja eh unabdingbarer Teil jedweder Kritik. Diesmal jedenfalls aber bin ich, was eine stückübergreifende Denkrichtung angeht, aufgeschmissen. Die Arbeiten sind zu
unterschiedlich und eigenartig, eigenständig sowieso, um sie miteinander zu verweben. Jedes Stück lässt sich auch einem unterschiedlichen Genre zuordnen – so sahen wir heute ein Potpourri aus
Tanztheater, Tanz & Medien sowie, ja, Tanz. Warum aber soll ich mich dann eigentlich auch erst unnötig bemühen und mir etwas Unausgegorenes aus den Fingern ziehen? Eigentlich kann ich die
drei Arbeiten auch gut und gerne mal für sich stehen lassen und werde deshalb nachfolgend auch konsequent unabhängig voneinander ein paar kurze Gedanken zu den einzelnen Stücken
formulieren.
Wobei, eine Sache fiel an diesem Abend dann doch stückübergreifend auf und das möchte ich – laut Gedanken abwägend – voranstellen: Zwei der drei Stücke hatten ihre Uraufführung vor nunmehr drei
beziehungsweise knapp sechs Jahren und tourten bereits häufig durch die Bühnen und Festivals der Welt, allen voran „Work in Regress“ von Ioana Mona Popovici. Aber auch „[NOTHING for 60min]“ von
Howool Baek und Matthias Erian hatte immerhin bereits mehr als zehn Showings auf zwei Kontinenten. Solche Zahlen wünscht sich auch so manch/e etabliertere/r ChoreographIn. Nun ist NAH DRAN ja
eine Reihe des ada Studios, die sowohl „neue [als auch] weiterentwickelte kurze Stücke Berliner Tänzer und Choreografen“ präsentiert. Das ist insofern also völlig in Ordnung, wenngleich
gleichzeitig ein Satz weiter zu den allgemeinen Informationen der Reihe auf der Website auch erwähnt wird, dass „mit der Reihe [...] Tänzern und Choreografen eine Plattform [geboten wird],
(möglicherweise erstmals) vor Publikum“ ihre Arbeit zu präsentieren. Das ada Studio wird in der Szene gemeinhin unabhängig vom eigenen Profil durchaus als eine Bühne für den Berliner „Nachwuchs“
wahrgenommen.
Das ada Studio versteht sich aber explizit auch als eine Plattform für „Neuankömmlinge“ in der Stadt, wie etwa Ioana Mona Popovici.. Und in Anbetracht der nach wie vor unzureichenden Vielfalt von
Berliner Bühnen für die Arbeiten unbekannterer ChoreographInnen aus aller Welt ist dies eine wichtige Ausrichtung. Ich persönlich denke aber auch, dass das ada Studio, beziehungsweise seine
künstlerische Leiterin Gabi Beier, mit der Reihe NAH DRAN einen Rahmen bietet, der die umfassenden Mängel der Berliner Bühnenwelt für den zeitgenössischen Tanz aufzugreifen und mit seinen
vergleichsweise beschränkten Möglichkeiten zumindest abzudämpfen versucht. Für die ungeahnte Menge der Arbeiten, die in dieser Stadt momentan ihren Raum zur Präsentation suchen und brauchen,
sowohl eben von Seiten des in Berlin angesiedelten internationalen Nachwuchses, als auch der Neuankömmlinge, kann das für die Kuration einer übrigens nach wie vor auch einzigartigen Reihe wie NAH
DRAN natürlich so gesehen nur heißen, sich der Vielfalt schlicht zu öffnen. Das ist auch mutig. Letztlich drehen sich meine Gedanken eher auch um die Frage, inwiefern man „NachwuchskünstlerInnen“
(wie gesagt eine Bezeichnung aus der Außenwahrnehmung) oder „Neuankömmlinge“ als solche begreift und vor allem auch, welche „Erfolgsbilanzen“ sich dann hinter den Namen oder Stücken verbergen
sollten. Wo zieht man die Grenze beziehungsweise sollte man diese tatsächlich in solch einem Rahmen vielleicht auch ziehen? Andererseits, hätten die ChoreographInnen dann überhaupt eine
Möglichkeit, ihre Arbeiten in angemessenem Rahmen zu zeigen? Darüber muss ich nun jedenfalls nach diesem Abend nachdenken. Und naja, eine Quintessenz hinter diesen Gedanken ist letztlich auch
ganz schlicht: In Berlin braucht es einfach mehr freie Bühnen mit solch mutigen Profilen für den zeitgenössischen Tanz! – Mehr Mut an anderer Stelle (zum Beispiel der kulturpolitischen)
sowieso.
Nun aber zu den drei Stücken: Die erste der drei Arbeiten war ein Auszug aus einem Ganzen, „[NOTHING for 60min] – media part“ von Howool Baek und Matthias Erian. Wie der Titel schon andeutet, es
wurde im hiesigen Rahmen nur der „live-Media-Teil“ präsentiert. Und das fand ich fast ein wenig schade, denn gerne hätte ich wenigstens eine Ahnung von dem erhalten, was sonst noch so auf der
Bühne hätte geschehen können. Der gezeigte Teil für sich – Howool Baek übertrug mit Hilfe von Kamera, medialer Übersetzung und Licht sowie untermalt von musikalischer Begleitung von Matthias
Erian bewegte Körperteile (vor allem Hand, Arm, Fuß und Unterschenkel, eine recht konkrete Beschreibung dazu findet sich auch im Programmarchiv) großflächig auf die Wand – war zwar beeindruckend
und ließ den tatsächlichen Körper für Momente hinter der Projektion verschwinden, funktioniert als Stück aber doch nicht ganz. Man merkt dem gewählten Ausschnitt an, dass er Teil eines Ganzen ist
und es fehlt an Ge- beziehungsweise Inhalt, weniger in der Musik als vielmehr in den projizierten Bildern. Aber na gut, das hat natürlich auch was mit Erwartungshaltungen zu tun: Der explizite
Hinweis im Programmheft, „Wir präsentieren bei NAH DRAN nur den live-Media-Teil“, lässt nunmal auch von vornherein das Fehlen von etwas mitdenken. Es blieben am Ende einfach projizierte Bilder
von Körperteilen, untermalt von interessanter Musik und durchaus auch Momenten von Vergessen der Anwesenheit eines realen bewegenden Körpers. Und diese Momente sind wirklich schön und
faszinierend, aber dann irgendwann auch entlarvt und zum Ende hin leider langweilig. Ich wäre gespannt darauf zu sehen, wie dieser Teil in einem Ganzen eingebettet ist.
Für die zweite Arbeit an diesem Abend, „Omni“ von Emily Ranford, einer australischen Tänzerin und Choreographin, fehlte mir offen gesagt einfach ein Zugang. Den habe ich leider nicht gefunden und
kann deshalb nicht einmal platt ein Gefühl von fand ich gut oder schlecht vermitteln. Ich weiß es einfach nicht. Ich glaube, dass ihre und meine Umlaufbahnen, von denen schreibt sie im knappen
Klappentext, sich einfach an keiner Stelle kreuzten. Über „Brüche“ in diesen Umlaufbahnen, „schwimmende Kompression“ und „Rundumspannung“ schreibt sie da und alles ist irgendwie auch Teil ihrer
Bewegungen und ihres Parcours durch den Raum: Zu Beginn tanzte die in Blümchentop, Tigerleggings und Sportschuhe gekleidete Emily Ranford in Slow-Motion zu einem clubbigen Popsong. Das
konterkarierte auf spannende Weise mit der Musik, denn würde sie auf den Beat tanzen, würde es so mit ihrem Erscheinungsbild wirken, als wäre sie aus einer Tanzklasse her gebeamt worden. Diesen
Eindruck aber hat sie umgehend ausgehebelt. Als das Lied zu Ende war, änderte sich ihr Rhythmus und sie tanzte schneller, dabei ganz leise und wie in Gedanken einen Songtext singend, ohne aber
wirklich in sich gekehrt zu wirken. Sie tanzte im Grunde so vor sich hin und durch den Raum, mal weich und mal gespannt, mit gestreckter oder eben komprimierter Körperhaltung. Unserer Blicke war
sie zwar gewahr, aber irgendwie ohne selbst eine klare Präsenz zu markieren – irgendwie war sie in ihrem eigenen Universum und gleichzeitig doch voll da im Hier und Jetzt. Taucht da jetzt jeden
Moment doch die Tanzklasse auf? Schließlich kam noch einmal ein Popclubsong aus den Boxen, dessen Struktur Ranford aber nicht mehr durch langsame Bewegungen auswich, sondern einfach auf der
Stelle überhüpfte. Titel, Beschreibung und Bewegung kamen hier für mich nicht zusammen und deshalb war ich zugegebener Maßen leider aufgeschmissen beziehungsweise ins Vakuum des Alls
entfleucht.
„Work in Regress“ von Ioana Mona Popovici ist in jedem Falle ein gelungener und nachdenklich stimmender Abschluss dieses Abends. In verstörender und doch glücklicherweise auch humorvoller Weise
verhandelt Popovici mit ihrem tanztheatralen und auch geheimnisvollen Stück das Verhältnis von Bevormunden und Bevormundet sein. Auf der Bühne wirkt sie wie von etwas oder jemandem getrieben und
ist doch auch Herr ihrer eigenen Handlungen, getrieben in und durch sich selbst. Das transportiert die Performerin trotz einer sie sichtbar schwächenden Erkältung mit einer präzisen
Bewegungsarbeit und beeindruckender Körperbeherrschung. Beeindruckend und stark sind auch immer wieder die Bilder, mit denen sie menschliche Verhaltensweisen entlarvt: Mit gesenktem Kopf und
unterwürfiger Haltung, aber gezogener Waffe verschwindet sie beispielsweise kurz hinter eine Wand und knallt etwas oder jemanden kurzerhand ab, kehrt dann schließlich unberührt davon wieder
zurück. Oder etwa wenn sie versucht, ihrem stoisch reagierendem Körper zum Trotz, ein Bonbon in den Mund zu stecken, stattdessen aber wie aus dem nichts fünf aus ihren Backentaschen kullern. Da
wird das stets zu verhandelnde Verhältnis zwischen Beherrschung und Entgleisung wunderbar auf den Punkt gebracht. Für diese Arbeit ließ sich die Rumänin von George Orwells Roman „Farm der Tiere“
inspirieren. Ausgerechnet das Schaf, „strohdumm und geistlos alles nachblökend, was man ihm nur lang genug vorbetet“, spielt eine hervorgehobene Rolle in „Work in Regress“ und taucht als Bild
immer wieder auf oder geht stellenweise in die Figur über. So traurig es auch ist, aber Ioana Mona Popovici trifft mit dieser Figur und diesem nunmehr sechs Jahre alten, wunderbaren Kleinod den
Nerv der Zeit, sind wir doch auch innerhalb unserer Gesellschaft nur so umgeben von diesen dummen Schafen, nur das diese inzwischen nicht mehr hinter vorgehaltener Hand, sondern global sichtbar
brutal zuschlagen.