Text zu 10 times 6 (9./10. Mai 2015) von Thomas Schaupp

 

 

Über das Verpassen an sich zu schreiben ist gar nicht so einfach und über etwas Verpasstes noch viel weniger. Ersteres lasse ich einfach bleiben, zweites allerdings mache ich diesmal notgedrungen: Die letzte Ausgabe von „10 times 6” habe ich nämlich leider verpasst. Die Aufführungstermine hatten sich verschoben und wurden damit durch bereits feststehende Reisepläne meinerseits überkreuzt. Dennoch haben wir uns, Gabi Beier und ich, gemeinsam dazu entschieden, dass ich über den Abend schreiben werde. Dieses Mal geschieht dies aber notgedrungen vom Band - ein bisher unerprobtes und vielleicht auch nur einmaliges Verfahren für einen Studioschreiber, aber auch ein spannendes Experiment. Glücklicherweise wird jede Veranstaltung des ada Studios mit der Kamera festgehalten. Selbstverständlich aber ändert sich der Blick auf die zehn Arbeiten wesentlich: Die jeder Aufführung zu Grunde liegende Live-haftigkeit und all ihre Facetten (leibliche Kopräsenz und Teilhabe, Ansichtigkeit, Atmosphäre, Gerüche, Nebengeräusche und so weiter) sind der Dokumentation als gespeichertes Medium entzogen oder zumindest nur noch eingeschränkt vernehmbar. Mein Blick auf die Arbeiten wurde dieses Mal durch das Auge und die Ohren der Kamera, ihre Qualität sowie ihre Führung durch den/die Drehende/n (vor-)bestimmt.

Ausgerechnet am Abend der Aufnahme geschah aber etwas, was in unseren Gefilden eigentlich nur noch sehr selten geschieht – kurz vor Beginn des Abends mit zehn sechsminütigen Stücken fiel im ganzen Quartier um den Gesundbrunnen für wohl knapp eine halbe Stunde der Strom aus und damit auch Licht und Technik im ada Studio. Das Glück des Abends war aber zum einen der Einfallsreichstum des technischen Leiters Ansgar Tappert und zum anderen, dass es draußen noch nicht dunkel war und Barbara Toraldo für ihr Stück „Dealing with Gravity can be sensual” (in geplanter Reihenfolge das sechste der zehn Stücke, beziehungsweise das erste nach der Pause) sowieso Taschenlampen mitgebracht hatte. Auch war der Akku des Studio-Laptops voll geladen, so dass es auch ohne Strom möglich war, Musik abzuspielen. Ich weiß das alles natürlich jetzt nur vom Hören-Sagen... Jedenfalls, dies alles brachte Ansgar Tappert schließlich auf die einfache, wie auch überaus spannende Idee, dass man doch – um den (ausverkauften) Abend zu retten, die Taschenlampen aus Barbara Toraldos Stück nutzen könne?! Kurzer Prozess: Schon bald darauf waren sich scheinbar alle einig und ein paar ZuschauerInnen bekamen kurzerhand die Taschenlampen in die Hände gedrückt. Sie sollten mit diesen die PerformerInnen so lange wie nötig beleuchten. Am Ende traf es glücklicherweise nur die ersten beiden Stücke. Rechtzeitig vor dem dritten kam der Strom wieder zurück.

Was für ein weiteres spannendes Experiment im Rahmen dieser Ausgabe von „10 times 6”, für alle Beteiligten: Die immer wieder und nach wie vor viel diskutierte Partizipation des Zuschauers in den darstellenden Künsten wurde an diesem Abend durch die Aufgabe zur augenscheinlichen Handlung. Sichtbar wurde nur, was die ZuschauerInnen mit den Spotlights der Taschenlampen in ihren Händen anstrahlten. Der Rest blieb im Dunkeln verborgen oder nur noch Geahntes im gräulichen Blau des Abendlichts. Das Zuschauen blieb nicht mehr passiv und beliebig, sondern wurde zur aktiven Verantwortung. Die ChoreographInnen hingegen waren nicht mehr Herr ihrer (räumlichen) Komposition. Nun gut, eine besondere Lichtshow lag den jeweiligen Konzepten sowieso nur selten zu Grunde, da die Einladung zu „10 times 6” den Einsatz von Grundlicht oder nur einer Lichtstimmung bedingt. Dennoch, der Blick auf die PerformerInnen im Raum wurde konsequenterweise zentrierter durch den Strahlweg der Lampen und wagemutiger durch die Handführung der ZuschauerInnen. Nur für Barbara Toraldos Stück schien das eine zentrale Idee gewesen zu sein und hätte an diesem Abend eigentlich auch einzigartig bleiben sollen. Deshalb muss man ihr für den Mut und Einsatz für die Rettung des Abends besonders danken. Wäre dem nicht so gewesen, hätte der Abend ins Wasser fallen müssen – die wohl unschönste Alternative. Insofern, Chapeau an alle Beteiligten!

Für eine gute Qualität der Videoaufnahmen war der Einsatz der Taschenlampen natürlich leider eher hinderlich, weshalb es mir schwer fällt, über die ersten beiden Stücke, „Stehaufmännchen” von Giulia Amici und „Squeezed” von Shiri Lukash, aber auch über Barbara Toraldos „Dealing with Gravity can be sensual” ein Urteil zu wagen. Zu viele Dinge bleiben nur als Ahnung erkennbar und ich will mich jetzt gar nicht erst auf wagnisvolle (Be-)Urteilungen einlassen. An dieser Stelle muss man unbedingt anerkennend erwähnen, dass alle beteiligten KünstlerInnen dieses Abends mit den besonderen Ereignissen und all ihren Konsequenzen umgehen mussten - keine einfache Situation. Denn hie und da war die besondere Unruhe, Nervosität oder Aufregung selbst über das Video noch deutlich zu spüren, übrigens auch auf Seiten der ZuschauerInnen (für mich in den Aufnahmen erkennbar an den zittrigen, teils auch eher „spielerischen” Führungen der Taschenlampen, aber auch den bemerkenswert lebhaften Dialogen zwischen den einzelnen Stücken). „10 times 6” ist, darüber habe ich ja schon in meinem Text zur letzten Ausgabe vom November 2014 ausführlicher geschrieben, ein spannendes Format, das an einem Abend zehn völlig unterschiedliche künstlerische Ansätze zeigt und damit die Vielfalt des (zeitgenössischen) Tanzes in einer Art Schnelldurchlauf zur Schau stellt. Hervorheben möchte ich dieses Mal jedoch nur, geschuldet auch den oben benannten Umständen, die Arbeiten „Linutus” von Kathrin Knöpfle sowie „40 Tage Wagner” von Simone Detig. Beide Arbeiten haben mich im besonderen Maße und über alle Hindernisse hinweg überzeugt:

Kathrin Knöpfle schuf mit „Linutus”; eine fesselnde Studie über die Linie und wie sie Körper und Raum zu durchziehen vermag. Mit einem schwarzen Seil umwob und entsponn sie sich mal liegend, mal stehend. Mit diesen im Grunde ganz einfachen Mitteln schuf sie allerdings eine überraschend spannende Bild- und Bewegungskomposition von mal zwei-, mal dreidimensional wirkenden, durch horizontale und vertikale, zwischen Seil und ihrem Körper entstandenen, flüchtigen Formen. Sie beschrieb damit einen sich stets selbst verhandelnden Raum um und mit sich und das mit einer absolut souveränen und klaren Präsenz. Sie führte ihre Bewegungen außerdem mit einer solch virtuosen Präzision und körperlichen Gespanntheit aus, die mich selbst noch über die Distanz des Videos hinweg überwältigte. Ich muss zugeben, dass ich Kathrin Knöpfle noch gar nicht kannte, aber ich hoffe, dass wir sie in Zukunft öfters als Tänzerin in Berlin erleben werden.

Simone Detig kreierte mit „40 Tage Wagner” eine kleine choreographische Reflexion über Musik als Speicher von Erinnerungen: „Ein Stück Musik wie eine Speicherkarte, täglich neu beschrieben mit Erinnerungen, Bildern, Emotionen. Verändert die Musik das Erinnern oder das Erinnern die Musik?” schreibt die dazu in ihrem Programmtext. Schon muss ich an all die Zeiten denken, an denen ich selbst über Wochen hinweg immer wieder das gleiche Lied oder Album hörte und wie sich die mit dieser Musik verknüpften Orte, Empfindungen und so weiter mehr und mehr in die Töne und Hirnwindungen prägten. Insofern macht es auch nicht nur Sinn, sondern auch einfach Spaß, dass Simone Detig nicht auf und nicht über, sondern wunderbar nonchalant MIT einer Arie Wagners auf der Bühne tanzte. Allein schon der Auftritt zu Beginn überwältigte: Gerade noch letzte Geräusche und Lachen im Publikum, als plötzlich und unvermittelt die wunderschöne Arie mit starken Streichern begann und gleichzeitig das Licht gleißend hell wurde. Da stand die Tänzerin, wie gerade irgendwo aus dem Nichts gelandet, für eine kurze Weile regungslos an der Wand, in schwarzer Hose und weißem Top mit den allseits bekannten Lettern „No. 5” und ließ die Musik ihren Körper durchfluten. Dann begann ihr Tanz durch den Raum, mal offensiv, mal introvertiert, mal hingebungsvoll und mal lässig. Keine Interpretation des gesanglichen Inhalts, keine Stringenz in der Form wie etwa im Ballett, sondern schlicht pures Empfinden und Wirkenlassen. Simone Detig erfasste Tanz und Musik in ihrer Essenz und erfüllte den Raum nicht nur mit ihrer Präsenz, sondern auch wunderbar mit der emotionalen Kraft beider Künste - auch über die Grenzen der Videoaufnahme hinweg.


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

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