Text zu NAH DRAN extended: Tanzstipendiaten (5. Oktober 2013) von Anna Volkland
I. Ist das hier schon Kunst? Und was ist das Geheimnis von Adam Linder?
Was machen Tanzstipendiaten des Berliner Senats eigentlich mit ihrem Geld? Vier der acht Stipendiaten des letzten Jahres haben im ada Studio jetzt so ästhetisch ansprechend und unterhaltsam wie
eben möglich Rechenschaft darüber abgelegt, was sie mit der unglaublichen Summe von 2500 Euro angestellt haben: Günther Wilhelm demonstrierte, wie gut er Gebärdensprache gelernt hat; Adam Linder
hat sich rappen beigebracht (oder konnte er es bereits vorher?) und an einer technisch atemberaubend anspruchsvollen 90er Jahre-Forsythe-Choreographie gearbeitet und am Ende ist ein Musikvideo
herausgekommen, vielleicht aber auch nebenbei, man weiß es nicht, es ist jedenfalls großartig; Elpida Orfanidou hat einen ambitionierten Bildphilosophen und Filmemacher kennengelernt und
höchstwahrscheinlich das Geld in die mit ihm erarbeitete Film-Performance gesteckt (weiß man auch nicht ganz genau, egal); Katja Münker ist ganz extravagant über die Alpen gewandert und nennt das
somatische Geh-Forschung. Wir sehen, die Stipendien sind allesamt gut investiert, bzw. ist das in jedem Fall einfach anzunehmen, und diejenigen, die im ada Studio nichts präsentiert haben (Diego
Agulló, Alex Baczynski-Jenkins, Begüm Erciyas und Felix Marchand), waren schlichtweg zu beschäftigt und erfolgreich, um auch nur ein kurzes Video zu produzieren. Und natürlich ist es auch nur
sinnvoll, etwas zu zeigen, wenn es einem für die eigene Fortentwicklung auch etwas nützt – womit ein wenig unklar ist, warum Günther Wilhelm und Adam Linder in ihrer Abwesenheit jeweils Videos
zeigen ließen... so kann man als Künstler doch nichts dabei lernen?
Günther Wilhelm ist wahrscheinlich einfach ein sehr netter Mensch, der uns erklären wollte, wir anspruchsvoll es ist, Gebärdensprache zu lernen – ich war tatsächlich beeindruckt und habe einiges
Neues gelernt, das ich in meinem bisherigen Leben noch gar nicht als Wissenslücke bemerkt hatte. Und Adam Linder hat so seine eigenen Gründe, nehme ich an, und wird sein wie gesagt wirklich
beeindruckendes Musikvideo vielleicht für eine Performance verwenden oder als Bonusmaterial auf seinem ersten Rap-Album (sic) platzieren. Vielleicht hat er damit auch an seinem persönlichen
Mythos gearbeitet, immerhin haben nun einige Handvoll ZuschauerInnen gesehen, dass er nicht nur rappen kann (wussten wir ja schon), sondern auch tanzen wie ein taufrischer Absolvent der Royal
Ballet School (an der er tatsächlich studiert hat), dazu Basecap und die für ihn typischen sexy Hüftbewegungen – es schockiert ein wenig, selbst wenn immer zu erahnen war, dass er tanztechnisch
einiges drauf hat, was er im Normalfall aber einfach mal nicht zeigt. Adam Linder also als heimlicher Tanzgott, der sich als superpostmoderner Zeitgenosse mit Turnschuhen tarnt und bei
oberflächlicher Betrachtung – Wiebke Hüster sei gewarnt – fast als Workshopschluffi durchgehen könnte.
Die beiden Stipendiatinnen waren dagegen ganz bodenständig persönlich anwesend: Elpida Orfanidou zeigte Ausschnitte aus einer gerade im Entstehen begriffenen Produktion (und weil Work in
Progress Arbeit im Stadium des Fortschritts heißt, erlaube ich mir, ein paar Fragen zu stellen, auf dass alles weiterhin gut und noch ein ganzes Stück fortschreite – siehe Text II); Katja
Münker hatte eine Lecture Demonstration vorbereitet, die mit einem im klassischen Sinn "fertigen Stück" nicht viel gemein hatte, sondern eher als dramaturgisches Format zur teilweise auch
leibhaftigen Wissensvermittlung gesehen werden kann – streitbar, würde ich sagen (siehe Text III).
II. Doppelgesichtiges Leiden, choreographierte Gesichtszüge, aber (vorerst) kein Tanz (Elpid'arc in Progress)
Elpida Orfanidou und Juan Perno huldigen mit ihrem Filmklonprojekt Elpid’arc dem Face-Close-Up, das – nebenbei bemerkt – für die Stipendiatin, die hier ihr Gesicht der Kamera beinahe als
Ready-made zur Verfügung stellt, wirklich vorteilhaft ausfällt. Aber was weiter? Zum Zeitpunkt des ada-Showings, fast vier Wochen vor der eigentlichen Premiere, scheinen sich die beiden an einem
Punkt zu befinden, an dem sie entscheiden müssen, ob ihnen ein formal-handwerkliches Experiment genug ist, oder ob sie nicht doch noch einmal mit der Schere ans Material wollen, um deutlicher die
Fragen zu stellen, die sie bei diesem Projekt beschäftigen. Bisher handelt es sich um eine vor allem aus filmtechnischer Sicht saubere, ästhetisch ansprechende und auf den ersten Blick kuriose
Arbeit: Ausgehend von der verblüffenden ähnlichkeit der Gesichter Elpida Orfanidous und Maria Falconettis, der Jean d’Arc-Darstellerin in Karl Theodor Dreyers Passionsfilm von 1928, haben sich
die Tänzerin und Choreographin und der Konzeptvideophilosoph daran gemacht, Extrakte des in die Filmgeschichte eingegangenen Stummfilms zu klonen, d.h. Haltungen und Ausdruck von Falconettis Jean
d’Arc-Kopf inklusive der filmischen Perspektive und des Bildausschnitts vor einem weißen Hintergrund möglichst exakt erneut herzustellen.
Zuerst sehen wir den Filmklon direkt neben dem Original auf die Studiowand projiziert synchron ablaufen, immer diejenigen Szenen, in denen "Jean d’Arc" – ihr Gesicht in Großaufnahme – den
verschiedenen Stadien ihres Leidens Ausdruck verleiht: meist subtil, manchmal aus heutiger Sicht übertrieben theatral, in jedem Fall unglaublich intensiv. Wobei letzteres für Maria Falconetti
gilt. Tatsächlich erscheint die Jean d’Arc von 2013 schöner als die von 1928, allerdings leidet sie auch deutlich weniger, wischt schon mal mit dem Fingerknöchel über eine trockene Wange. An
diesem Punkt ist nicht klar, worum es geht. Um eben diese Differenz? Natürlich ist es mit einiger Akribie möglich, Körperhaltungen, Kopfneigungen, Nackenwinkel oder Augenaufschläge nachzuahmen,
die vor 85 Jahren verrichtete Kameraarbeit ebenfalls nachzustellen, schwer aber, dem Leiden der Maria Falconetti nachzuspüren, die ihrerseits der Jungfrau von Orléans nachgespürt haben mag,
vielleicht aber auch eigenen dunklen Abgründen – in der Biographie Dreyers wird behauptet, sie habe Zeit ihres Lebens unter psychischen Problemen gelitten und mit 54 Jahren Selbstmord
begangen.
Während Großaufnahmen weinender Gesichter in der Regel eine Einfühlung fast erzwingen, regte sich durch das Betrachten der doppelten Passionsbilder keinerlei Mitgefühl in mir, zu offensichtlich
künstlich sind die Filmaufnahmen. Ist also die Verhinderung der sentimentalen Illusionsmaschine Kino Ziel dieses filmischen Sezier- und Kopiervorgangs? Einige weitere Fragen dieser Art ließen
sich stellen, ohne wirklich notwendig oder erhellend zu sein.
Ein wenig mehr Licht ins Dunkel des künstlerischen Forschungsinteresses scheinen die anschließend live nachgestellten Interviews zu bringen, in denen den beiden Nichtschauspielern durch jeden
Verzicht auf Verkleidung oder Rolleneinfühlung eine Art kleines Lehrstück in epischem Theaterspiel gelingt: Zuerst befragt E.O. (in der Rolle einer Journalistin) J.P. (als Regisseur Dreyer) nach
seinen Motivationen, einen Film über die letzten Stunden der Johanna von Orléans zu drehen, dann J.P. (in der Rolle eines Journalisten) E.P. (als Maria Falconetti) nach Casting und Dreharbeiten;
schließlich noch einmal dasselbe Spiel, indem Elpida als scheinbar Außenstehende Juan nach seinen Motiven für den Filmklon und das Finden seiner neuen Protagonistin befragt, wiederum gespiegelt
von einem Gespräch zwischen Juan als Außenstehendem, der Elpida zu den Dreharbeiten als Maria Falconetti-Double interviewt. Am Ende versuchen sie ein gänzlich normales Gespräch miteinander, was
vielleicht dazu beitragen soll, die verschiedenen Stadien der Schauspiels zu illustrieren: beginnend bei der Behauptung, ohne irgendwelche Verstellungen historische Personen zu verkörpern, über
die Darstellung der eigenen Person in einem fiktiven Gespräch, bis dahin, so zu tun, als ob man sich in einer spontanen, privaten Situation und nicht auf einer Bühne befände. Da es niemals eine
wirkliche Verunsicherung über das tatsächliche Verhältnis zwischen Fiktion und Spiel gibt, zu offensichtlich auch hier die Künstlichkeit, ist das nur halbspannend. Vor allem erscheinen diese sich
an die Filmvorführung anschließenden Gespräche wie der Versuch, nachträglich Erklärungen und tiefere Bedeutung zu liefern, ohne mit dem oben erwähnten Messer ans Filmmaterial selbst
ranzumüssen.
Ihr sozusagen sprechendes Programmheft steuert allerdings tatsächlich Themen zum Projekt bei, denen weiter nachzugehen sich mit großer Sicherheit lohnen würde: der männliche Regisseur (Dreyer)
als gewaltausübender Puppenspieler, das mitleidlose Auge, der kühle Verstand auf der einen Seite – die weibliche Schauspielerin (Falconetti) als opferbereite Puppe, zugleich objekthafte
Projektionsfläche und authentisch leidendes Geschöpf auf der anderen. Ob Dreyer nun tatsächlich ein Sadist war, der das Quälen seiner Darsteller genossen haben soll, oder hier lediglich alte
Klischees zitiert werden – was fasziniert Elpida und Juan an der Struktur dieses Machtverhältnisses? Warum betonen sie die Parallelen ihres Projekts zum historischen? Wie Dreyer ist auch der
Regisseur Juan Perno derjenige, der seine Darstellerin zuerst anspricht und auswählt, wie Falconetti leidet auch Elpida Orfanidou unter dem von ihm geforderten Abscheren der Haare, lässt sich
weinend dennoch bei dieser Prozedur filmen, und bezeichnet die Dreharbeiten als "our own journey of suffering". Wirklich leidend wirkt sie dabei allerdings nicht, zumal sie immer eine
Kurzhaarfrisur trägt. Also ein selbstironischer Kommentar zur Frage, wie authentisch ein Reenactment sein kann? Weniger lustig, aber faszinierender ist dagegen die auch im Filmklonprojekt
spürbare Obsession der perfekten Form, der totalen Kontrolle... Setzten sich die beiden offen damit auseinander, könnte die Film-Performance Elpid’arc (Premiere am 31.10. im HAU)
verstörender und eindrücklicher werden, als es sich bisher als Potenzial des Materials andeutet.
III. Kunst ist, das scheinbar Selbstverständliche fremd erscheinen zu lassen (Katja Münker bespricht das Gehen)
Wenn man über das Gehen nachdenkt, fällt einem vielleicht ein, dass es sich beim Spazieren und selbst beim ruhelosen Auf- und Abgehen im Zimmer oftmals besser denkt als am Schreibtisch, oder dass
das zweibeinige Gehen nicht nur rundherum praktisch ist, sondern z.B. beim Wandern eine Quelle der wahren Freude sein kann usw. Die Untrennbarkeit von Körper, Geist, Gefühl sind beim ganz banalen
Gehen immer Thema, das leuchtet sofort ein. Katja Münker befasst sich nach eigenen Aussagen seit drei Jahren mit dem Gehen, sie begreift diese Beschäftigung als Forschung und choreographische
bzw. Performance-Praxis. Nun bereits (fast) mein Leben lang auf zwei Beinen durch die Welt spazierend, interessiert mich natürlich, welche aufregenden neuen Perspektiven auf diese scheinbare
Selbstverständlichkeit nach einem solch langen Untersuchungszeitraum gewonnen werden konnten – zumal Katja Münker während ihres Tanzstipendiums den Fokus auf das Gehen als
"somatisch-choreographische Methode" gelegt hat, was erst einmal schlicht rätselhaft klingt. Praktisch bestand diese Methode u.a. in einer 2,5-monatigen "Alpenquerung", von der an die
ada-Studiowände projizierte Fotos von Almwiesen und Geröllhängen sowie ein Video vom Gehen mit Wanderstab auf steinigem Untergrund nur vage Eindrücke vermittelten, während eine Soundcollage aus
Kuhglockenläuten, schwerem Atem, knirschenden Schritten und so etwas wie nach einer Art röchelndem Schwein (?) doch eine beinahe bergeinsamkeitsidyllische Atmosphäre verbreiteten.
Der wohl auch aufgrund dieser visuellen und akustischen Elemente als Performance-Installation angekündigte Vortrag bestand aus zwei Teilen: Im ersten bereitet Katja Münker eine "Grieslandschaft"
als Bühne, wendet sich angenehm unverkrampft dem Publikum zu (offensichtlich ist sie gewohnt, sich Anderen zu erklären und will die Zuhörer tatsächlich erreichen), gibt allerdings eine recht
förmliche Einführung, die vielleicht die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens klar machen soll, und schließlich beginnt sie, im Kreis zu gehen, ziemlich viel zu erzählen, vor allem ihre körperlichen
Demonstrationen zu kommentieren. Für den zweiten, kürzeren Teil lädt sie das Publikum ein, barfuß die Grieslandschaft zu erkunden, eine Stufe unter gehwissenschaftlichen Gesichtspunkten bewusst
herauf- und hinabzusteigen, während sie das partizipative Gewusel mit weiteren Hinweisen auf ein zu entwickelndes Gehbewusstsein und den Moment des übergangs zum Tanz (eine Veränderung des
Rhythmus’ nämlich) bespricht.
Dass Katja Münker in der ihr eigenen freundlich-trockenen Art ermunterte, doch öfter mal auf Lebensmitteln zu gehen, zeigt, wie ernst sie Kunstpraxis als im Schillerschen Sinne zweck- und
gesetzesfreien Spielraum höchstwahrscheinlich nimmt. Mit moralischen Kategorien sollte man der Aufforderung, das, was der Mensch wirklich zum (Über)Leben braucht, mit Füßen zu treten, also
nicht kommen. Katja Münkers Performance will nichts bedeuten, keine irgendwie aufgeladenen Bilder oder Szenen produzieren, sondern sich direkt mitteilen und Gries ist einfach irgendein Material.
Wer durch lange somatische Praxis daran gewöhnt ist, bewusst seinen Körper zu spüren, den Raum zu fühlen und nach noch unentdeckten Beziehungen zwischen den Phänomen zu suchen, sich also
vollkommen auf die Essenz des Seins zu konzentrieren, hat vermutlich auch die Fähigkeit, Wirkung und lesbare Bedeutungsebenen des eigenen Tuns radikal auszublenden. Was dann ermöglicht, mit
vorgeschobenem Unterkiefer malmend und ungewöhnlich mobilem Brustkorb auf recht steifen Beinen schnelle kurze Schritte ohne Abrollen des Fußes zu setzen und dabei vollkommen ernsthaft zu
erklären, die Kieferbewegungen ermöglichten ein beflügelteres Gehen. Hier liegt dann entweder Betriebsblindheit vor oder der seltsame Schnellwatschelgang und die empfundene Gehbefreiung sind nur
von außen betrachtet ein Widerspruch.
Katja Münkers Wunsch, dem Publikum neue Perspektiven zu ermöglichen, schien ja auch ganz und gar aufrichtig zu sein. Wem die Einsicht in eben diese nun Dank ihrer suggestiven Demonstrationen und
dem angeleiteten Gehen vergönnt war, mag sich freuen – mir fehlten dazu vielleicht das somatische Einfühlungsvermögen und die geistige Wendigkeit auf dem doch sehr holprigen Terrain der
Argumente. (Ich muss gestehen, diese nicht einmal wiedergeben zu können, da ich mir nicht merken kann, was sich mir beim Hören oder Sehen nicht auf irgendeine Art erschließt.)
Der große Gewinn der Präsentation hätte in ihrer erheiternden Wirkung liegen können. Aber man darf nicht wirklich lachen, wenn die Performance absolut nicht spaßig gemeint ist. Und es deutete
absolut nichts darauf hin, dass Katja Münker hier in slapstickhafter Manier die Auswirkungen eines Langzeitexperiments vorführen wollte, das inspiriert von Kleists Aufsatz Über das
Marionettentheater untersuchte, wie das durch somatische Praxis gestählte Körperbewusstsein selbstverständliche, "natürliche" Bewegungen unmöglich macht. Oder kurz gesagt: Kann man nach drei
Jahren intensiver Beschäftigung mit der zweibeinigen Fortbewegung noch normal gehen? (Was ist normales Gehen überhaupt?)
Das ada-Publikum hatte sich offensichtlich entschlossen, der Performance mit ebenso großem Ernst, wie ihn die Performerin selbst unter Beweis stellte, gegenüberzusitzen, was natürlich absolut
taktvoll war. Vielleicht hätte es die Forschungspraxis aber auch weitergebracht, wenn die Anwesenden nicht nur höflich zugehört hätten und bereitwillig auf der Bühne herumgetappt, sondern mit
Fragen an Katja Münker herangetreten wären?
Wer jedenfalls das Lachen jetzt noch einmal ungeniert nachholen möchte, dem sei wärmstens der Monty Python-Sketch Ministry of Silly Walks empfohlen, der – was für ein Zufall – mit der
Vergabe eines staatlichen "Research Fellowship on the Anglo-French Silly Walk" endet: http://www.youtube.com/watch?v=iV2ViNJFZC8