Erfahrungsbericht zu „Approaching Care - work in progress“, von und mit Anajara Amarante und Jojo Büttler, von Gast-Studioschreiberin Fia
Neises
Heimlicher Titel: „Der Care-Chor“
Ich bin Fia/Sophia Neises, weiß, queer und behindert. Ich habe das „work in progress“ an seinem zweiten Durchlauf am 29. Juni 2024 besucht.
Der Titel „Approaching Care“ eröffnet, dass Care etwas Prozesshaftes ist und nicht in Stein gemeißelt werden kann. Ich freute mich schon im Vorfeld, den Approach gemeinsam zu erleben.
Nach einem warmen „Hallo“ der Care-Agents und den Mitarbeitenden des ada Studios und einem freiwilligen Covid-Test wurde dazu eingeladen, bei Bedarf das Studio schon vor dem regulären Einlass zu
betreten. Das Publikum stand im Halbkreis vor der Eingangstür und ich musste, um mehr Zeit zum Einrichten zu erhalten, aus der Gruppe heraustreten und mit Taststock den Eingang finden. Das war
unangenehm, ich fühlte mich sehr beobachtet. Anschließend wurde ich über einen Leitstreifen in das Studio geführt. Die Idee, einen Leitstreifen auf dem Boden zu befestigen, schafft enorm viel
Vertrauen und hat mich sehr gefreut. Leider war er nicht mittig genug, sodass ihm zu folgen, mich dennoch in den Türrahmen geführt hat. Im Studio angekommen wurde mir beschrieben, dass es
verschiedene Sitzmöglichkeiten gibt. Ich fragte danach, mich anlehnen zu können und landete auf einem Klappstuhl. Darauf lag ein Spielzeug mit vielen Texturen. Es hat mich sofort zum Erforschen
und Assoziieren eingeladen. Als meine Assoziationen von Dildo über langer Spülschwamm zu Minikrawattenkissen wandelte, ging die Performance los. Jojo beschrieb den Bühnenraum mit Worten und gab
gleichzeitig akustische Referenzpunkte. Jojo bewegte sich nämlich beim Sprechen durch den Raum, der hier Care-Zone genannt wurde, und klopfte hier und da auf Gegenstände. In der Einführung wurde
sich viel Zeit genommen, den Raum gut erfassbar zu machen. Leider erfuhr ich dann erst, dass es Sitzmöglichkeiten gab, die für mich an dem Tag besser gepasst hätten. So entstand ein gewisses
Gefühl von Frustration und Unfreiheit. Aber Jojos Instruktion und Eröffnung des Ortes war sehr warm, angenehm und durch die durchgehend queere Sprache wurde die Intersektionalität, in der Care
gedacht wurde, schnell deutlich.
Jojo führte charmant von der technischen Beschreibung in eine fantasievolle Welt, die von kleinen Puscheln auf dem Kostüm als immer begleitende Wesen spricht. Alle stellten sich vor, auch die
Care-Agents. Sie waren sehr präsent. Das Publikum erfuhr ihre Namen und ihren Standort, so dass es niedrigschwellig möglich war, sie bei Bedarf anzusprechen. Die Einführung gab mir Zeit
anzukommen. Jojos Vorbereitung des Spaces wirkte wie der erste Akt von Care für Anajara. Dann begannen sie, Wünsche aneinander zu richten und sie meistens auch zu erfüllen. Das Gespräch
miteinander fungierte als wunderschöne Audiodeskription. Beide hatten sehr unterschiedliche Arten, ihre Bedürfnisse auszudrücken, was mich zum Nachdenken über ihre Biografien und Sozialisation
gebracht hat. Care wurde schnell zu einem universalen Thema, da Zitate von verschiedenen Personen eingespielt wurden, die über ihren Bezug zum Thema berichteten. Es war interessant zu hören, wie
apologetic Menschen darüber berichten, Care erhalten zu haben. Um so wichtiger war es, dass Anajara und Jojo es nicht waren.
Als sie sich dem Wasser als Element von Care widmeten, gab es die erste Einladung zur kollektiven Care. Das Publikum unterstützte den Regentanz der Protagonist*innen durch Wasserplätschern und
Tropfen. Einen Moment wurde ich hier durch eine plötzlich technische und wie von außen wirkende Audiodeskription zum Regenmacher-Instrument und Jojos Tanz aus dem Flow gebracht. Hier ist
Potenzial, die Idee von Care mit vielfältigen Facetten auch auf die Aestetics of Access (AoA) zu übertragen. Welche Form von Beschreibung wäre im Flow des Showings gewesen? Hätte es Beschreibung
gebraucht? Hier bekam ich Lust, selbst mit dem Künstler*innenteam zu forschen. Mit deren Klarheit gibt Anajara anschließend Instruktionen, wie sich das Publikum gegenseitig Bedürfnisse erfüllen
kann. Zuerst machen nicht viele mit, aber dann entsteht plötzlich ein wunderschöner Care-Chor im Raum. Leute fragen sich nach Konsens, geben Instruktionen, trauen sich zu fragen, was sie möchten,
Körper werden geklopft und ausgestrichen.
Zurück zu den Protagonist*innen widmen sie sich dem Gewicht der anderen Person. Hier entsteht eine interessante Spannung für mich, da sie sehr verkopft scheinen, während sie beschreiben, was sie
tun und gleichzeitig in einer schönen Intimität miteinander sind. Und dann wurde es grandios! Ich habe noch nie eine tatsächliche Pause im Theater erlebt. Sie ist für mich oft mit Stress
verbunden. In „Approaching Care“ wurde Orangensaft verteilt. Das Publikum begann sich zu unterhalten, die Protagonist*innen räumten um und auf, es wurde gelüftet. Ich fühlte mich wohl genug, mich
einfach auf den Boden vor meinem Stuhl zu setzen und zu dehnen.
Als es weiterging, folgte ein Tanz mit Orangen. Er wurde durch gedankliche Prozesse der Tanzenden beschrieben. Ich erinnere noch sehr an den Satz von Anajara: „Meine Orange ist nicht perfekt,
aber das ist die Welt auch nicht.“ Es tauchte die Frage auf, wer für wen sorgt. Die Orange wurde als Versorgerin, Massage und angenehmes Gefühl auf der Haut beschrieben, während zum Beispiel Jojo
gleichzeitig die Orange trug und behütete. Die Szene erinnerte mich sehr warm an „Queer Animacy“ (Julia Watts Belser, Claire Cunningham). Dabei geht es um die Mensch-Material-Beziehungen, die
einen Gegenstand, wie zum Beispiel Hilfsmittel wie einen Taststock, erst lebendig werden lassen. Eben diese Mensch-Materialbeziehungen sind (lebens)notwendig in der behinderten Lebenserfahrung
und die Erweiterung auf das Objekt Orange hat mich sehr abgeholt.
Ich bin froh, einen Ort, der sowohl Care als auch Crip-Spacetime (Margaret Price - Disability Studies USA) approached, an einem öffentlichen Ort wie dem ada Studio erlebt zu haben.
Barrierefreiheit stand nicht nur im Verhältnis zu den räumlichen, sondern auch zu den zeitlichen Gegebenheiten. Es ist erstaunlich, wie viel die beiden Künstler*innen mit ihrem Team, darunter
auch Ari Althaus als Access-Dramaturg*in, in nur 4 Wochen Arbeitszeit verwirklichen konnten.
Experience report about "Approaching Care - work in progress", by and with Anajara Amarante and Jojo Büttler, by guest writer
Fia Neises
Secret title: "The Choir of care"
I am Fia/Sophia Neises, white, queer and disabled. I attended the “work in progress” on its second run on June 29, 2024.
The title “Approaching Care” opens up the idea that care is a process and can not be set in stone. I was already looking forward to experiencing the approach
together in advance.
After a warm “hello” from the care agents and the ada Studio staff and a voluntary Covid test, we were invited to enter the studio before regular admission if
required. The audience stood in a semi-circle in front of the entrance door and I had to step out of the group and find the entrance with my cane to give me more time to settle in. It was
uncomfortable, I felt like I was being watched.
I was then led into the studio via a guiding system. The idea of attaching a guiding system to the floor creates an enormous amount of trust and made me very
happy. Unfortunately, it wasn't centered enough, so following it still led me into the doorframe. When I arrived at the studio, I was told that there were various seating options. I asked to have
back support and ended up on a folding chair. On it was a toy with lots of textures. It immediately invited me to explore and make associations. As my associations changed from dildo to long dish
washing sponge to mini tie cushion, the performance began. Jojo described the stage space with words and at the same time provided acoustic reference points. Jojo moved through the space, which
was called the care zone here, while speaking and knocked on objects here and there. A lot of time was taken in the introduction to make the space easy to grasp. Unfortunately, it was only then
that I found out that there were seating options that would have suited me better that day. This created a certain feeling of frustration and lack of freedom. But Jojo's instruction and opening
of the space was very warm, pleasant and the intersectionality in which Care was conceived quickly became clear through the consistently queer language.
Jojo charmingly led us from the technical description into an imaginative world that spoke of little pom-poms on the costume as ever-accompanying creatures.
Everyone introduced themselves, including the care agents. They were very present. The audience learned their names and where they were located, so that it was easy to approach them if necessary.
The introduction gave me time to settle in. Jojo's preparation of the space felt like the first act of Care for Anajara. Then they began to make requests of each other and mostly fulfilled them.
The conversation with each other acted as a beautiful audio description. Both had very different ways of expressing their needs, which made me think about their biographies and socialization.
Care quickly became a universal theme as quotes are played from different people talking about how they relate to the topic. It was interesting to hear how apologetic people are about having
received care. It was all the more important that Anajara and Jojo were not.
When they turned to water as an element of care, there was the first invitation to collective care. The audience supported the protagonists' rain dance by
splashing and dripping water. For a moment, I was taken out of the flow by a suddenly technical and seemingly external audio description of the rainmaker instrument and Jojo's dance. There is
potential here to transfer the idea of care with its many facets to the Aesthetics of Access (AoA). What form of description would have been in the flow of the show? Would it have needed
description? This made me want to do my own research with the team of artists. With their clarity, Anajara then gives instructions on how the audience can fulfill each other's needs. Not many
people join in at first, but then suddenly a beautiful choir of care emerges in the room. People ask each other for consensus, give instructions, dare to ask for what they want, bodies are tapped
and stroked.
Back to the protagonists, they focus on the weight of the other person. This creates an interesting tension for me, as they seem very cerebral while describing
what they are doing and at the same time are in a beautiful intimacy with each other. And then it got grandiose! I've never experienced an actual intermission in the theater. It's often
associated with stress for me. In "Approaching Care", orange juice was handed out. The audience began to chat, the protagonists tidied up and rearranged things, the air was cleared. I felt
comfortable enough to just sit on the floor in front of my chair and stretch.
As it continued, a dance with oranges followed. It was described through the mental processes of the dancers. I still remember Anajara's sentence: "My orange is
not perfect, but neither is the world." The question arose as to who takes care of whom. The orange was described as a provider, a massage and a pleasant feeling on the skin, while Jojo, for
example, carried and protected the orange at the same time. The scene reminded me very warmly of “Queer Animacy” (Julia Watts Belser, Claire Cunningham). This is about the human-material
relationships that bring an object, such as an aid like a touch stick, to life in the first place. It is precisely these human-material relationships that are (vitally) necessary in the disabled
experience of life and the extension to the object orange really picked me up.
I am glad to have experienced a place that approaches both Care and Crip-Spacetime (Margaret Price - Disability Studies USA) in a public place like the ada
Studio. Accessibility was not only in relation to space but also to time. It is amazing how much the two artists and their team, including Ari Althaus as access dramaturge, were able to achieve
in just 4 weeks of work.