Text zu „reinkommen“ (28. Oktober 2022) von Adèle Aïssi-Guyonins Deutsche übersetzt von Auro Orso

 

Tanz und Musik werden oft als "universelle Sprache" definiert, als Kunstformen, deren Bedeutung angeblich kulturübergreifend ist und die jedem Menschen, unabhängig von seiner Herkunft oder seiner gesprochenen Sprache, verständlich sind. Natürlich muss die Definition des Begriffs "universell" wie in jedem anderen Zusammenhang hinterfragt und problematisiert werden. In den letzten Jahrzehnten ist dieser Begriff vielfach kritisiert worden, insbesondere wenn es um die Themen gender und race geht. Die Reflexion über die anhaltende Behindertenfeindlichkeit in der Gesellschaft wird in der Forschung und Performancekunst wenig thematisiert. Xenia Taniko weist in ihrer Arbeit direkt auf dieses Problem hin, indem sie eine Performance kreiert, die darauf abzielt, wirklich zugänglich zu sein für "ein vielfältiges Publikum von tauben, blinden, sehenden und hörenden Personen". Sie nehmen die Herausforderung an, sich mit einer Recherche zu beschäftigen, die der Performance andere Möglichkeiten gibt. Sie bricht mit der potentiellen Ausgrenzung, die bei Tanu allein oder Musik allein gegenüber einem bestimmten Publikum (taub oder blind) entsteht.

 

" I'm A Lie That Tells The Truth" ist ein vielschichtiges Werk, das sowohl auf visueller als auch auf akustischer Ebene erlebt werden kann. Die Performende Person ist allein auf der leeren Bühne und lässt sich auf einen langen Prozess ein, der auf dem Erreichen bestimmter Zustände zu basieren scheint. Die Person beginnt schweigend auf den Knien sitzend und beginnt langsam zu nicken und den Kopf zu bewegen, dann die Hand, als lausche sie einer Melodie, die für das Publikum nicht wahrnehmbar ist. Nach und nach tauchen Töne aus der Tiefe auf, fast wie bei einer Bauchrednervorstellung. Ich habe das Gefühl, dass ich Teile einer inneren Musik hören kann, zu der ich keinen Zugang habe. Nach und nach und während des gesamten Stücks entwickelt sich diese Beziehung zwischen Bewegung und Stimme. Die performende Person bewegt sich in den Raum, mit subtilen Bewegungen, die sich meist auf die Bewegung der Arme und des Gesichts beschränken und durch den Raum gehen. Lange Stimmtöne, aber auch Grummeln, Rasseln und Geräusche entweichen oder werden aus ihrem Mund und Körper projiziert. Meistens scheinen sie dem gleichen Rhythmus zu folgen wie die Bewegung: Die peformende Person scheint von einem Zustand, einem Fluss, bewohnt zu sein, der sowohl akustisch als auch physisch ist. Stimme und Bewegung scheinen durch dieselbe Dynamik erzeugt zu werden.

 

Manchmal erinnern mich ihre Finger- oder Handbewegungen an die Gesten und Körperhaltungen von Sängern oder Dirigenten. Aber die Stimmarbeit ist alles andere als traditionell. Die Stimme erscheint als eine Materie, die erforscht wird, sowohl sehr abstrakt als auch sehr materiell. Sie wird zu einem Körperteil, zu einem Instrument. Sie dauert an, schreckt auf, springt, trommelt, verändert sich genauso wie eine Bewegungsqualität oder choreografische Phrasen.

 

Körper und Stimme sind in diesem Stück nicht zu trennen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die akustische und die visuelle Erfahrung nichts miteinander zu tun haben, wie zwei verschiedene Stücke, die zur gleichen Zeit aufgeführt werden. Aber dann, scheinen Klang und Bewegung plötzlich wieder eins zu sein, einen einheitlichen Zustand zu bilden, oder mit Verzögerung zueinander in Beziehung zu stehen, als Resonanz, als Echo des jeweils anderen. Für Zusehende wie mich schafft das Bewusstsein, dass die gemeinsame Betrachtung von Ton und Bild keinen Mehrwert darstellt, eine besondere Aufmerksamkeit, eine andere und vielleicht genauere Art, das Stück wahrzunehmen. Es ist interessant zu sehen, wie sehr Bewegung und Stimme miteinander verwoben sind und miteinander spielen (synchronisiert oder verzögert), und sich gleichzeitig bewusst zu sein, dass sie als eigenständige Performance funktionieren.

 

In dieser Arbeit zögert Xenia Taniko auch nicht, mit den Grenzen der theatralischen Performance zu kokettieren. Xenia setzt nicht nur den Körper, sondern auch das Gesicht ein, um eine Charakterfigur zu schaffen, die in manchen Momenten zum Leben erwacht. They erscheinen mir als eine verspielte und heimtückische Figur, wie eine Hexe oder ein Gnom, die ganz offen mit der Anwesenheit des Publikums spielt. Es ist sehr interessant zu sehen, wie sich diese Eigenschaften aus dem Blick und der Mimik ebenso ergeben wie aus der nuschelnden Stimme. Später taucht eine andere Figur wieder auf, deren Stimme eine Melodie zwischen Oper und Disney-Song anstimmt, während sie mit albernen Bewegungen durch den Raum läuft, die fast an ein Broadway-Musical erinnern. Sie schaffen es, sowohl durch den Klang als auch durch die Bewegungen Figuren zu erschaffen, ohne jemals zu schauspielern oder zu sprechen. Das Ende des Stücks fungiert als Rückkehr zu einer Form der Ruhe. Der Körper hat diese innere Dynamik kanalisiert, und nun scheint der Zustand, der Klang und Bewegung erzeugt, ruhig zu sein. Die Stimme wird zu einem Brummen, die Hände sinken langsam nach unten und zeigen ein Decrescendo, bis sie den Bauch der performenden Person erreichen. Wir erreichen eine visuelle und klangliche Stille und Reglosigkeit. Schlussendlich geht dieses Stück über die üblichen Übersetzungsversuche hinaus. Es zielt nicht darauf ab, eine Körpersprache zu schaffen, die mit mündlicher Sprache übersetzt werden könnte, oder umgekehrt. Es überträgt keine Bedeutung von der akustischen auf die visuelle Ebene oder umgekehrt. Vielmehr geht es dem Xenia darum, einen vollständigen und umfassenden inneren und äußeren Zustand zu finden, der sich sowohl in den Gesichtsund Körperbewegungen als auch in den vokalen Klängen niederschlägt und manifestiert, denn beide sind Ausdruck derselben Dynamik, desselben Impulses. Dies schafft eine gemeinsame, unübersetzbare oder bereits übersetzte Form der Sprache, eine gemeinsame Ausdrucksform anstelle einer doppelten, wiederholten Form. Es ist dabei, eine wirklich umfassende und multidimensionale künstlerische Praxis zu schaffen.

 

 

Dance and music are often defined as a «universal language», art forms whose meaning supposedly goes beyond cultures and which can communicate to anyone, no matter what their background or spoken languages are. Of course, as in any context, the definition of «universal» has to be questioned and challenged. In the last decades, this notion has been widely criticized, in particular when it comes to the topics of gender and race. But the reflection on the ongoing ableism present in society is less addressed in the field of research as much as in performing arts. In their work, Xenia Taniko directly points at this issue by creating a performance that aims to be truly accessible to «a diverse audience of deaf, blind, sighted and hearing viewers». They take up the challenge of engaging with a research that gives other possibilities to performance, that breaks with the exclusion created towards some potential audience (deaf or blind) by dance alone or music alone.

 

«I’m A Lie That Tells The Truth» is a multilayered work that can be experienced both on a visual and/or a sonic level. The performer is alone on the empty stage and engages with a long process hat seems based on reaching certain states. They start sitting on their knees, in silence, and slowly begin nodding and moving their head, then their hand, as if listening to a melody that is unhearable for the audience. Little by little, sounds start to emerge, from very deep, almost like in a ventriloque act. I feel like I can hear bits of an inner music I don’t have access to. Progressively, and throughout the piece, this relationship between movement and voice develops. The performer moves into space, with subtle movements, most often reduced to arms and face motion and traveling through space. Long voice tones, but also grumbles, rattles and sounds escape or are projected out of their mouth and body. Most of the time, they seem to follow the same rhythm as the movement: the performer appears as being inhabited by a state, a flow, that is both sonic and physical. Both voice and movement seem generated by the same dynamic.

Sometimes, their fingers or hands movement remind me of the gestures and postures of singers or conductors. But the work on voice here is very far from traditional. Voice appears as a matter that is explored, both very abstract and very material. It becomes a body part, an instrument. It lasts, startles, jumps, trembles, modifies itself in the same way as a movement quality or choreographic phrases.

Body and voice cannot be separated in this piece. Sometimes, I do feel like the sonic and the visual experience are unrelated, like two different pieces performed at the same time. But then, suddenly, sound and movement seem to be one again, forming one single state, or to work in relation to each other with delay, being the resonance, the echo of each other. For viewers like me, the awareness that witnessing the sound and the image together doesn’t represent an added value creates a specific attention, a different and maybe more accurate way of perceiving the piece. It is interesting to see how much movement and voice are intertwined and playing with each other (synced or delayed), and at the same time to be very aware that they are a working as a full performance on their own.

In this work, Xenia Taniko also doesn’t hesitate to flirt with the borders of theatrical performance. They don’t only use their body but also their face to create a character that comes to life in some moments. They appear to me as a playful and malicious figure, like a witch or a gnome, openly playing with the audience’s presence. It is very interesting to see how these characteristics are born from their gaze and facial expressions as much as from their mumbling voice. Later, another character comes up again as their voice starts a melody halfway between an opera and a Disney song, while they walk around the space with goofy moves, almost reminding of a broadway musical. They manage to create figures both through the sound and the movements without ever coming to acting or speech.

The end of the piece acts like a return to a form of calmness. The body was channeling this inner dynamic, and now the state generating sound and movement seems to be quiet. The voice becomes a humming, the hands go down slowly, miming a decrescendo, until they reach the performer’s belly. We reach a visual and sonic silence and stillness.

 

In the end, this piece goes beyond more usual attempts of translation. It does not aim to create a body language which would be translated with oral language, or the other way around. It does not transfer a meaning from the sonic layer to the visual one, or the contrary. Rather, the performer is engaging with finding a full and thorough inner and outer state that appears and expresses itself with facial and body movements as well as with vocal sounds, both being manifestations of the same dynamic, the same impulse. It creates a common form of language, untranslatable, or already translated, one common form of expression rather than a double, repeated one. It is on its way of creating a truly and thoroughly inclusive and multidimensional artistic practice.

 


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