Text zu „reinkommen“ (12. August 2022) von Adèle Aïssi-Guyon, ins Deutsche übersetzt von Gabi Beier
Am Freitag, dem 12. August 2022, präsentierte Joel Small a.k.a. Reflektra eine offene Probe von „Transitions“ am Ende der Residenz im ada Studio.
Die Performance nimmt uns mit auf eine Reise des Übergangs und der Verwandlung und besteht aus mehreren Teilen, die wie verschiedene Schritte in dieser Entwicklung wirken. Im Studio sind von Anfang an Elemente zu sehen, die mit dem Aussehen und seinem transformativen Potenzial zu tun haben: der schwarze Tanzboden, der einen Laufsteg bildet, verzerrende Spiegel, einige Kostümteile, ein Schminktisch mit einem Ringlicht. Auch die musikalische Atmosphäre unterstützt dies während des gesamten Stücks, das mit wellenförmigen Schleifen beginnt und sich manchmal sehr organisch, manchmal abrupter verändert.
* Im ersten Teil ist Reflektra in ein cyborgartiges weiß-graues Kostüm aus Strumpfhosen, Ellbogen- und Knieschonern gekleidet und trägt eine Maske, die das Gesicht verdeckt. Aus einer sitzenden Position heraus beginnt Reflektra sich mühsam zu bewegen und versucht, die Position zu verändern, um aufzustehen. Dies sieht sowohl roboterhaft als auch zögerlich und zerbrechlich aus. Die langen Gliedmaßen lassen mich an Insektenbeine oder Antennen denken. Mittels eines Mikrofons kann die Stimme mit Effekten eingesetzt werden. Nach und nach erscheinen mir die Geräusche wie die Stimme eines Roboters, eines Babys, eines knurrenden Tieres, wie eine Teenagerstimme, die bricht. Diese Kreatur erscheint bereits wie ein Mutant. Erst wenn Reflektra anfängt, männliche Pronomen auszusprechen („er, er selbst, sein“), die Tonhöhe, den Tonfall und die Qualität der Stimme mit Humor verändert (von sehr tief bis sehr hoch), taucht das Thema der Geschlechtsumwandlung auf. Dann wird die Kreatur erwachsen, nimmt Bodybuilding-Posen ein, die ihre Muskeln zeigen, und führt alberne, lockere Tanzschritte mit einer ziemlich sexy Haltung aus.
** Reflektra zieht sich aus und unterbricht dabei die Pronomen, die wiederholt wurden („himself“ wird zu „sexself“, was die Absurdität zeigt, dass das biologische Geschlecht zum zentralen Element des Pronomens wird). Reflektra spricht weiter, spricht einen Text, der sowohl poetisch als auch wissenschaftlich klingt, und gibt eine Art kleine Konferenz in gesprochenen Worten über Binarität. Reflektra setzt sich einen schwarzen Visor auf und tanzt weiter mit weicheren, langsameren Bewegungen, manchmal ähnlich wie zuvor, aber durch den Wechsel der Kleidung wird die Wahrnehmung ganz anders.
*** Reflektra wechselt das Kostüm erneut und zieht ein rotes Kostüm an: einen Tanga, hohe Stiefel, ein rotes Visier, rote Handschuhe. Ich kann sehen, wie sich die Silhouette durch die deformierenden Spiegel verändert. Die durchsichtige rote Brille verrät, dass Reflektra geschminkt ist. Dieser Teil ist wirklich von Reflektras Androgynität geprägt. Wenn man die sehr große und muskulöse Silhouette von hinten sieht, in riesigen Stiefeln mit hohen Absätzen, entsteht ein sehr beeindruckender Effekt. Reflektra bewegt sich mit einer Art von Animalität im Raum, mal verführerisch, mal wilder, mal zerbrechlich und verletzlich auf den Absätzen, aber auch kämpferisch und posierend.
**** In einer langen Szene geht Reflektra an den Schminktisch und verwandelt den Raum in eine Loge. Die Präsenz verändert sich und wird weniger performativ: Es scheint, als würde in der Aufführung eine Show vorbereitet, und wir sind nun Zeuge der Vorbereitung darauf. Reflektra zieht das rote Kostüm aus, schminkt sich und beginnt sich mit Hilfe einer Person aus dem Publikum umzuziehen, während eine zweite Person die Spiegel auf der Bühne neu anordnet. Dieses neue Kostüm besteht aus Spitzenschuhen, schwarzen Strumpfhosen, einem schwarzen Korsett und eine schwarze Perücke. Reflektra wärmt sich auf und trainiert im hinteren Teil der Bühne.
***** Das große Finale der Aufführung beginnt. Wie eine Schwanensee-Tänzerin betritt die frisch gebackene Dragqueen auf Spitzenschuhen den Raum, posiert auf dem Laufsteg und beginnt mit einer Lippensynchronisation zu einem Lied über Freiheit und Selbstverwirklichung („everybody be who you are“, „everybody do what you feel“). In den Posen und im Tanz scheint Reflektra zwischen einem sehr authentischen Zustand und einer übertriebenen Dramatik zu wechseln, zwischen einem Aussehen voller Anmut und dem einer alten Diva am Ende ihrer Karriere. Ich kann sowohl die Energie der Performance, das Spiel des Zeigens als auch die Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit im Tanz sehen. Dies ist auch die Szene, in der die Spiegelreflexionen am deutlichsten zu sehen sind, die eine veränderte Version von Reflektra projizieren. Diese Szene der Befreiung umarmt die Codes der Drag-Performance und schafft einen Höhepunkt, der sowohl „over the top“, als auch voller freudiger Aufrichtigkeit und authentischer Freiheit ist.
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Die Aufführung folgt vielen verschiedenen Bewegungen. Sie zeigt eine vertikale Bewegung: Von einer sitzenden Position bis zur höchstmöglichen Haltung in den Spitzenschuhen zeigt das Stück eine Reise des Selbstwachstums und der Selbstentdeckung. Es zeigt auch eine Bewegung, bei der die Maske Schicht für Schicht abgebaut und gleichzeitig die eigene Identität aufgebaut wird, von einer kryptischen Dimension zu einer offeneren Identität.
Die allmähliche Enthüllung des Make-ups (das an sich schon ein Akt der Drag-Performance ist) und die eigentliche Schmink- und Vorbereitungsszene vor der Schlussszene stellen das Thema der Geschlechtsumwandlung schrittweise in den Mittelpunkt und ermöglichen auch ein echtes Gefühl des Höhepunkts und der Explosion beim Schlusstanz und bei der Lippensynchronisation. Aber während des gesamten Stücks wird mir auch klar, dass ich nicht Zeuge eines Übergangs als einer Bewegung von einem Punkt A zu einem Punkt B (männlich zu weiblich oder tierisch zu menschlich) werde, mit einem Anfang und einem Ende. Vielmehr werden mir Zustände des Übergangs, Szenen des im-Übergang-Sein präsentiert. Jeder Teil enthält verschiedene Dimensionen, wobei die eigene Handschrift von Reflektra erhalten bleibt.
Obwohl das Gesamtbild eine gewisse Verschiebung von einem eher männlichen Wesen zu einem sehr weiblichen Drachencharakter zeigt, bleibt jeder Teil komplex und mehrdeutig. In jedem Teil kann ich viele Ebenen der Darstellung und des Aufbrechens von Haltungen und Identitäten gleichzeitig finden, was durch Reflektras beeindruckende Bewegungsqualitäten ermöglicht wird. Die ersten Charaktere hinterfragen Männlichkeit bereits durch die Dekonstruktion ihrer Bewegungen und durch den kritischen Diskurs, durch das Spiel mit der Stimmveränderung. Die Figur in Rot und die Drag Queen haben Kostümelemente, die eigentlich mit Hyperfemininität assoziiert werden, aber der flache Torso bleibt beispielsweise immer sichtbar. Außerdem erinnert die letzte Perücke mit ihren zwei antennenartigen Haarsträhnen an die allererste Figur, die aufgetaucht ist. Die Drag-Szene, die wie ein Stück im Stück erscheint, spielt ebenfalls mit dieser Komplexität. Drag als Praxis basiert nicht nur auf realistischem Aussehen und Vergehen. Es beruht auch auf einer Form von Extravaganz und Übertreibung. Es hat seine eigenen Regeln und Merkmale, und es geht nicht unbedingt (und schon gar nicht ausschließlich) darum, „wie eine Frau auszusehen“. Die Wahl von Drag als Schlussszene erinnert uns an die Verflechtung von Zeigen und Verstecken, von realer Identität und selbst geschaffener Fiktion.
Reflektra schafft es, jeden Zustand sowohl mit Empathie als auch mit einer gewissen Distanz oder Spott zu verkörpern, von innen und von außen. Ich glaube, das ist die lustvollste und nachhaltigste Art und Weise, sich Geschlechtercodes und -rollen zu nähern, die sowohl völlig in unserem Körper verankert sind, als auch als Ritual und tägliche Performance ungeheuer irrwitzig sind. Wie die deformierenden Spiegel auf der Bühne schafft die Performance Raum dafür, dass einige Dimensionen riesig und übertrieben werden und andere leicht dargestellt werden oder ganz verschwinden, und umfasst sowohl eine Form von Groteske und Absurdität, als auch eine feine Subtilität. Dies ermöglicht es uns, den Übergang nicht als eine Bewegung zu betrachten, die notwendigerweise durch das Ziel definiert ist, auf das sie zusteuert, sondern als einen Zustand der Erneuerung, Neudefinition, Neukategorisierung und Freiheit.
On Friday, August 12th, Joel Small a.k.a. Reflektra presented an open rehearsal of «Transitions» after their residency at ada Studio.
The performance takes us through a journey of transitioning and transformations, and is built in very defined parts that act like different steps into this evolution. In the studio, elements related to appearance and its transformative potential are visible from the beginning: the black dance floor forming a runway space, distorting mirrors, some pieces of costumes, a make-up table with a ring light. The musical atmosphere also supports this throughout the piece, starting with wavy loops and changing sometimes very organically, sometimes more abruptly.
* In the first part, the performer is dressed in a cyborg-like white and grey costume made of tights, elbow and knee pads, and iswearing a mask that covers their face. From a sitting position, they start moving with difficulty, trying to change their position, to stand up. They look both robotic and hesitating, fragile. Their long limbs make me think of insect legs or antennas. They have a mic that allows them to use voice with effects. Little by little, their sounds appear to me as the voice of a robot, a baby, an animal growling, a teenager voice breaking. This creature already appears as a mutant. Only when the performer starts to enunciate masculine pronouns («him, himsself, his»), the pitch, tone and quality of their voice modified with humor (from very low to very high), the topic of gender transitioning emerges. The creature then starts growing up, taking bodybuilding poses that show their muscles and performing goofy, loosen dance moves with a rather sexy attitude.
** The performer gets undressed, while disrupting the pronouns they were repeating («himself» becomes «sexself», which shows the absurdity of the biological sex becoming the center element of one’s pronoun). They keep speaking, enunciating text that sounds both poetic and scientific, giving a sort of a small conference in spoken words about binarity. They pu a black visor and keep dancing with softer, slower movements, sometimes similar as before, but the change of clothes makes the perception of it very different.
*** They change their costume again, putting on a red costume: a thong, high boots, a red visor, with red gloves sewed to them. I can see their silhouette transformed by the deforming mirrors. Their transparent red glasses reveal that they are wearing make up. This part is really marked by the androgynity of the dancer. Seeing their very long and muscular silhouette from the back, in huge boots with high heels creates a very impressive effect. They move with a form of animality in the space, sometimes seducing, sometimes more wild, sometimes fragile and vulnerable on the heels but also fierce, posing.
**** In a long scene, they go to the make-up table, transforming the space into a loge. Their presence changes, becoming less performative: a show seems to be in preparation inside of the performance, and we are now witnessing them getting ready for it. They wipe themselves, take the red costume off, finish their make up and start getting changed with the help of one person coming from the audience, while a second one rearranges the mirrors on the stage. In this new costume, they have pointe shoes, black tights, a black corset and a black wig. They warm up and train in the back.
***** The grand finale of the performance starts. Like a swan lake dancer, this freshly born drag queen enters the space on her pointe shoes. She poses on the runway and starts a lipsync on a song about freedom and being oneself («everybody be who you are», «everybody do what you feel»). In the poses and the dance, she seems to shift between states of being very authentic and playing an exagerated drama, between looking full of grace or more like an old diva at the end of her career. I can see both the energy of performance, the game of showing, and the fragility and vulnerability in her dance. This is also the scene where the mirror reflections are the most visible, projecting altered versions of her. This scene of liberation embraces the codes of drag performance, creating a climax that is both «over the top» and full of a joyful sincerity and authentic freedom.
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The performance follows many different movements. It shows a vertical one: from a sitting position to the highest posture possible, in the pointe shoes, the piece shows a journey of self-growth and self discovery. It also pictures a movement of breaking down mask layer by layer while building up one’s identity at the same time, from a cryptic dimension to a more revealed identity.
The progressive reveal of the make up (which is in itself already an act of drag performance) and the actual making up and preparation scene before the final scene progressively recenter the topic to gender transition, also enabling a real feeling of climax and explosion with the final dance and lipsync. But throughout the piece, I also realize I am not witnessing a transition as a movement from a point A to a point B (masculine to feminine, or animal to human), with a departure and an end. Rather, I am presented states of transition, scenes of being in transition. Each part contains different dimensions, while keeping the dancer’s own signature.
Although the big picture shows us a certain shift from a more masculine being to a very feminine drag character, each part stays complex and ambiguous. In each part, I can find many layers of performing and breaking down attitudes and identities all at the same time, which is made possible by the performer’s impressive movement qualities. The first personas are already questioning masculinity through the deconstruction of their movements and through their critical discourse, through the game on voice modification. The character in red and the drag queen have costume elements really associated with hyperfemininity, but the flat torso of the performer, for instance, always remains visible. Moreover, the last wig, with its two antenna-like hair strands, also reminds us of the very first figure that appeared. The drag scene, appearing as a piece inside of the piece, is also playing on this complexity. Drag as a practice is not only based on realistic appearance and passing. It also relies on a form a extravagance and exaggeration. It has its own rules and characteristics, and it is not exactly (and definitely not only) about «looking like a woman». Choosing drag as a closing scene reminds us of the intertwinement between showing and hiding, between real identity and one’s own created fiction.
The performer manages to embody each state with both empathy and some distance or derision, from inside and outside. I guess it is the most joyful and sustainable way to approach gender codes and roles, which are both totally anchored in our body and immensely ridiculous as a ritual and daily performance. Like the deforming mirrors present on stage, the performance makes space for some dimensions to get huge and exaggerated, and for other to be presented slightly or to disappear completely, and embraces both a form of grotesque and absurdity and a fine subtlety. This enables us to consider transition, not as a movement necessarily defined by the goal it is going towards, but as a state of renewal, redefinition, recategorization and freedom.