Text zu NAH DRAN extended: endings (25./26. April 2020) von Johanna Ackva
Um es gleich vorweg zu nehmen: Chapeau! Die Tänzerinnen und Choreografinnen Edith Buttingsrud Pedersen, Nicole Michalla und Victoria McConnell haben mit der online-Version ihrer Stücke für NAH DRAN extended: endings ein Naturtalent für filmisches Gestalten bewiesen. Oder aber da war ein starker Wille und großer Einsatz – um aus einer Arbeit, die in nicht unwesentlichem Maß vom Raum der Bühne und der Begegnung mit dem Publikum lebt, eine zu machen, die selbst ich mit meiner Digitalskepsis mir gerne zu Hause am Bildschirm angesehen habe! Gewöhnen muss ich mich allerdings schon erstmal an das neue Format: Noch nie war ich zu spät zu einer Aufführung. Die Verabredung Samstag um 20:30 Uhr habe ich nur mit mir. Du schaust das wie sonst auch immer, sage ich mir, und denkst an all die Leute, die das zur gleichen Zeit tun werden. Aber nichts da. Erst fehlt die Brille, dann meldet der Akku, er sei leer, dann gibt der Kuli für meine Notizen den Geist auf, et cetera, et cetera. Fünf Mal drücke ich auf Pause, stehe vom Sofa auf und kehre wieder zurück, ein scheinbar endloses Hin und Her, bevor es tatsächlich losgeht...
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...und auch schon wieder vorbei ist. – Aus und vorbei mit allen Plänen, die Victoria McConnell und Rodolfo Piazza Pfitscher da Silva seit letztem Sommer für das neue Stück Playing Dead & Doing Time geschmiedet haben. Es gibt keine Residenz, kein Studio, kein Publikum. Victoria scheint den Tränen nah. Was nun? Vielleicht erstmal meditieren. Sie sitzt zwischen Bett und Zimmerpflanze im Lotussitz, das Gesicht ganz konzentriert, doch plötzlich entgleiten ihr die Züge. Sie fasst sich an die Kehle. Doch die überraschende Atemnot führt schnell zum Tod. Victoria kippt zur Seite. Schnitt. Heiter Sonnenschein. Rodolfo fährt auf einem gemütlichen Damenrad durch den Park. Er kommt nicht einmal bis zur Mitte des Kameraausschnitts, da kippt auch er samt Rad zur Seite und ist tot. Schnitt. Ein tragischer Ausrutscher auf einem Eiswürfel vor dem Gefrierfach. Schnitt. Ein vergifteter Rotwein. Schnitt. Ein Toaster in der Badewanne. Schnitt. Ein blutiger Verkehrsunfall. Schnitt. Lachfall. Schnitt. Fieber.
Hoffentlich kein Virus! So komme ich nicht umhin zu denken. Untermalt von dramatischer Musik performen sich Victoria und Rodolfo slapstickartig durch immer unwahrscheinlicher werdende Tode. Bis das Rad der Wiedergeburt schließlich doch einmal anhält und der Bildschirm schwarz wird. Die absurde Komik der Ein/Übung dessen, was vielleicht als einzige Sache tatsächlich nicht geübt werden kann, erinnert an den Filmklassiker Harold and Maude, in dem der Teenager Harold seine Mutter mit immer wieder anders inszenierten Selbstmorden in den Wahnsinn treibt.
Das war es hier aber noch nicht. Das Ende steht uns noch bevor, flüstert Victoria in einem Voiceover, während die Kamera zeigt, wie sie etwas unentschlossen in ihrem Zimmer herumsteht. Es könnte unangekündigt hereinschneien, sicher sei jedoch, dass das Ende kommt. Deshalb zähle vor allem die Frage danach, was wir mit der Zeit anfangen, die uns bis dahin bleibt. Die Aktivitäten, mit denen die beiden Spezialist*innen daraufhin ihre Zeit totschlagen, scheinen den Corona-Umständen gemäß: In der Isolation ihrer Wohnung sprechen sie mit Pflanzen oder machen endlich mal ordentlich Ordnung. Dabei werden Topfgewächse ziemlich umständlich mit beiden Füßen übers Parkett geschoben und in geometrischen Formen platziert. Während Pflanzen ungefähr 10.000 Mal langsamer ticken als wir Menschen und uns damit in schier unvorstellbare Zeitdimensionen blicken lassen, zeigen Victoria und Rodolfo zwischen ihren einfallsreichen Aktionen rasch Anzeichen von Langeweile und Frustration. Sie starren an die Wand und scharren mit den Hufen. Vielleicht werden so Verschwörungstheorien geboren? Zum Beispiel die eines bevorstehenden Aussterbens der Yorckshire Terrier oder der Abholzung der Berliner Straßenbäume? Die Sinnsuche, die uns angesichts der Begrenztheit dieses Lebens zu obliegen scheint, treibt mitunter seltsame Blüten oder eben Phantasien von feindlich gesinnten Planeten.
Zuletzt ertönt für eine abschließende Runde seltsamer Todesübungen ein tragisches Liebeslied. Victoria kippt im hellrosa Kleid aus dem Fenster. Im Hof schält sie sich aus dem Blumenbeet. Von dort aus geht es zum Friedhof. Der Liebestod in der Wiese wird zur Sicherheit gleich ein paar mal wiederholt. Will sie nun sterben oder nicht? fragt man sich. Lohnt sich das? Wie kann man überhaupt wollen, was man nicht kennt? Das Flirten mit dem Tod, der großen Unbekannten X, scheint zumindest eine Art Ausbruch aus dem üblichen Trott zu sein. Ein humorvolles Spektakel der großspurigen Gesten ist es allemal. Und wir lernen: es gibt keine tote Zeit, nicht mal in der Ritze zwischen Topf und Übertopf.
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Wer spricht eigentlich mit wem, wenn ich mit mir selbst spreche? Sind es mein früheres Ich und mein jetziges Ich? Oder gar mein jetziges Ich und mein zukünftiges Ich? Sind es eine alte Gewohnheit und ein verwegener neuer Entwurf? Die Stimmen der Vernunft und die des Wahnsinns? Der Ruf der Ferne und die Lieder der Heimat? Der forschende Geist und das fühlende Herz? Die Müdigkeit und die Disziplin? Der Schalk im Nacken und der Wurm im Ohr?
In dialogue with myself ist ein stummes Selbstgespräch, für welches die Tänzerin und Choreografin Nicole Michalla mit einer Überblendung von drei räumlich identischen Filmsequenzen arbeitet. Die Überlagerung führt die drei bewegten Bilder ihrer selbst im virtuellen Raum des Kameraframes zusammen. Drei Schwestern, drei Unbekannte, drei Generationen, drei Prozesse, drei Timelines, die sich einander in der Performance immer wieder wie zufällig annähern und auseinander driften. Dabei erzeugt das changierende Verhältnis zwischen ihnen ein Gefühl der Endlosigkeit: Hält eine der Figuren inne, so laufen die Bewegungen der anderen weiter. Zum Großteil sind es sich wiederholende zirkuläre Bewegungen, kreisende Arme und Torsi. Ein wellenartiges Hin und Her, bei dem die Handflächen mal über den eigenen Körper, mal über den Boden streifen und streicheln.
Ohne dass sich die drei Doppelgängerinnen einander ein einziges Mal zuwenden spielt sich ihr Leben in einer offensichtlichen obgleich indifferenten Beziehung zueinander ab: Es gibt keine Präferenz, kein besser oder schlechter zwischen Synchronität und Asynchronität. Es gibt – auch im Kostüm, das die drei unterschiedlichen Videoaufnahmen Nicoles klar voneinander unterscheidet – keine Uniform, nur stetig wechselnde Formen und Verhältnisse, die mich in ihrer Einfachheit in den Bann ziehen. Während die Zeit der Uhr linear voranschreitet, drehen sich die Bewegungen im Kreis, halten die Figuren mitunter als skulpturale Bilder inne. Zeit ist hier heterogene Vielheit, kein zentral regulierender Maßstab.
Das Crescendo zum Abschluss oder als Höhepunkt des Stücks hätte es für meinen Geschmack gar nicht gebraucht. Die vor allem musikalisch vermittelte Eskalation lässt das Tempo ansteigen und die Bewegungen ausladender werden. Schön und berührend ist das Bild einer einzelnen Nicole/Figur, die am Schluss zurück bleibt: Die Schwarzen Locken und die großen Falten des blauen Hemdes flattern im Zugwind, den ihr Rumpf aufwirbelt. Fast wie eine tosende Ozeanwelle im Sturm. Und dann liegt das Meer wieder glatt.
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Ein Wesen in weißem Kleid liegt auf einem Stück künstlichen Rasen. Es stützt sich auf die Arme, blickt über die Schulter hinweg und durch die Linse der Kamera mir direkt in die Augen. Ich, durch die Linse zurück, blicke von oben auf sie herab. Das Wesen ist ein Mädchen mit Schmollmund und Rüschen. Es schwankt auf dem Plastikrasen hin und her wie eine aufgeplusterte weiße Taube, die allerdings nicht fliegen kann. Auch seine Zehen streckt es der Kamera entgegen. Sie biegen sich und wackeln. In meinem Kopf wird aus der Taube ein Hund. Ein etwa handgroßer Hund aus Plastik, einer von denen, die in Autos sitzen, mit ihrem losen Kopf nicken und mit den leeren Augen kullern.
Ich habe Zeit, meine eigenen Bilder entstehen zu lassen, denn Edith Buttingsrud Pedersen wird sich erstmal nicht vom Rasen erheben. Es scheint sogar, als könne dieser weiß verpackte Körper gar nicht stehen, sondern gerade mal von der Vorder- auf die Rückseite und vom Sitzen in diese seltsam zierliche und zugleich ungemütliche Bananen- oder Meerjungfrauenpose wechseln. Dabei lässt mich ihr Blick keinen Moment lang los, auch als erst zärtlich ihre Finger und dann etwas beherzter ihre Zehen durch das künstliche Gras kämmen. Sinnlich wirkt diese Geste und fast lasziv in der Art, wie sie mich gefangen nimmt.
Auf dieses erste Kapitel von Methods of Completion: a being that causes itself folgt dann doch, begleitet von einem schwungvollen Soulsong, ein Upgrade in die Vertikale. Über den Umweg einiger angestrengter Windungen, bei denen ich weiter unentwegt angeblickt werde – befördert sich Edith ins Stehen und von dort in ein paar Highheels. Das Bild, die Geschichte ist nun für mich komplett: Schuhe und Lippenstift sind es, die Arielle, die Meerjungfrau zu einer „richtigen“ Frau, ich will fast sagen, zu einer Barbie machten. Das ist es zumindest, was ich hier sehe. Was daraufhin folgt, sind in meinen Augen Elemente und Iterationen derselben hegemonialen Weiblichkeitserzählung: die leidende Frau, die weinende Frau, die hingebungsvoll bekennende Frau (beim Liebeslied lipsync), die sinnliche Frau, die gefährliche Frau (mit den Pistolenhänden), die Verkörperung der Frau als Blume, etc. Die kritische Ausstellung einer solchen Figur kann ich durchaus verstehen. Für meinen Geschmack wirft das jedoch etwas viele Bilder und Metaphern in den Raum, zwischen denen es mir schwer fällt, sinnvolle Zusammenhänge zu erschließen.
Oder geht es genau darum: dass ich leiden soll, an dieser unaufhörlichen Selbstinszenierung, diesem Perfektionismus- und Formalismusbestreben? Zumindest könnte das Ende ein Hinweis darauf sein: Der Griff nach einem der Äpfel aus dem Haufen neben dem Rasen ist schnell und ohne lange Überlegung und im Handumdrehen hat Edith ihn mit Stumpf und Stiel verschlungen. Im Close-up sehe ich ihr Gesicht, das Glitzern des Speichels zwischen den kauenden Zähnen, den verschmierten Lippenstift und fühle mich einen Moment lang wahrhaft befriedigt.