Text zu NAH DRAN (17./18. August 2019) von Johanna Ackva
Dan Su: On an attempt of a chicken soup
Was für ein rätselhafter Eiertanz! Dan Sus Versuch, eine Hühnersuppe zuzubereiten, beginnt ganz am Anfang, nämlich mit der Suche nach dem Huhn. Und damit endet er auch. Wohlgemerkt: Das Tier taucht niemals auf, von einer Suppe ganz zu schweigen. Was wir tatsächlich zu sehen bekommen, ist ein Ei und eine Vielzahl von Form-, Farb- und Sprachverweisen auf dasselbe. So arbeitet Dan Su etwa für das Bühnenbild mit zwei großen halben Eierschalen. Eine dient als Behältnis, für ein echtes Ei und eine Menge schwarzer Schnüre, die Dan Su später zu Nudeln deklarieren wird. Die andere hängt von der Decke und wirft einen Lichtspot auf die Bühne.
Hier beginnt Dan Sus Tanz, getränkt in eine Atmosphäre aus schummrigem Licht und Klängen, die mich an verborgenes Leben unter Wasser oder den Inhalt eines Magens denken lassen. Ich beobachte die Bewegungen einer Kreatur in weiß, der schwarze Haarschopf nach vorne fallend. Auf Knie und Fäuste gestützt knickt diese abwechseln die Ellbogen ein und streckt sie wieder, wölbt den Rücken und lässt ihn durchhängen. Ein Reptil, ein Apparat? Die Bewegungen sind akzentuiert und expressiv, immer in tune mit Farbe und Dynamik der sie einhüllenden Sounds. Neben Dan Sus Bewegungen können wir auch denen der animierten Visuals folgen, die den Rahmen der etwa ein mal ein Meter großen hängenden Projektionsfläche immer wieder sprengen und auf die Bühnenwand hinüberschwappen, -wabern oder -springen.
Die Virtuosität im Zusammenspiel zwischen Tanz, Video und Sound, die ebenfalls von Dan Su selbst gestaltet und umgesetzt wurden, ist maßgeblich bezeichnend für diese Arbeit. Jede der geschmeidigen, kraftvollen Bewegungen der Tänzerin wirkt absolut kontrolliert und genau abgestimmt mit den Veränderungen in Licht, Sound und Video, die in sich bereits eine Reihe bruchloser Illusionen erzeugen. Vor allem das Bild einer Wolke bleibt mir in Erinnerung, die sich zu Geräuschen, die wie das Ein- und Ausatmen durch einen Vocoder klingen, ausbreitet und zusammenzieht.
Dass dieser akkurate Umgang mit Material und Form besonders ins Auge fällt, liegt sicher auch an der Gesamtdramaturgie der Arbeit, die auf einem scharfen Wechsel zwischen zwei unterschiedlichen performativen Modi basiert: In den tänzerischen Parts tritt Dan Sus Körper, wie bereits angedeutet, symbolisch-expressiv in Erscheinung. Er nimmt mal animalische, mal marionettenhafte Züge an, vollführt kriegerische Bewegungen oder gebart sich wie besessen. Dramatisches Licht und anschwellende Klänge setzten das Ganze in Szene. In den – ich nenne sie mal – performativen Parts, ist der Raum hingegen hell erleuchtet und Dan Su interagiert in einem Ton gespielter Umgangssprachlichkeit mit dem Publikum. Sie beschreibt, sucht und beschwört immer wieder sowohl Huhn, als auch Ei. Dabei sind die Momente der Publikumsansprache ebenso stringent durchinszeniert, wie alle anderen Elemente der Arbeit. Ich fühle mich dementsprechend eigentlich nicht wirklich angesprochen, nicht gemeint.
Einen gewaltigen Schlag versetzt es mir vor diesem Hintergrund, als Dan Su einen Zuschauer bittet, sie – mit einem riesigen Messer in der Hand – zum Töten aufzufordern, woraufhin sie sinngemäß zurückfragt, ob sie das geborene oder das ungeborene Leben töten solle. Keine Antwort. Aber das scheint Dan Su auch weder erwartet noch eingeplant zu haben, denn nach diesem fragwürdigen Partizipationsspielchen macht sie ebenso bestimmt und betriebsam weiter, wie zuvor. Ich frage mich indessen, ob ich da gerade – quasi en passant – auf zeitgenössische Diskurse um Tier- oder gar Reproduktionsethik aufmerksam gemacht werden sollte. Oder ist die soeben erlebte Provokation das unüberlegte Nebenprodukt reiner Unterhaltungsabsicht? Vielleicht tut man den großen Fragen keinen Gefallen, wenn man sie fallen, sich aber nicht entfalten lässt.
Zum Abschluss hackt Dan Su auf die Projektionsfläche ein und es fließt computeranimiertes Eigelb von der Leinwand in den Raum. Sie wirft sich zu Boden und ihr Körper lässt das mediale Grande Finale über sich ergehen: Während sich im Video Eigelbstrudel formen und umherwirbeln, ertönen zwei Frauenstimmen, klagend, um das kaputte Ei? Das ermordete Leben? Es wird hell und schon steht Dan Su wieder auf beiden Beinen. „Where is my chicken?“ fragt sie, wie schon zu Beginn.
Auf Dan Sus ästhetische Sprache und herausragende multimediale Virtuosität hätte ich persönlich mich besser einlassen können, wäre ich nicht mit Fragen nach Huhn oder Ei oder dem ganz großen Sinn des Lebens behelligt worden.
Camille Käse: infinite cavalier unfinished
Auftritt des Cowboys: in Tigerprint und Boots, dazu etwas ungewohnt für einen, den man üblicherweise nur in Bluejeans zu sehen bekommt, ein knappes Netzhöschen. Es beginnt mit einem gleichmäßigen Traben in einem Kreis, der die gesamte Fläche der Bühne einnimmt. Während die schweren Schuhe gleichmäßig auf den Boden trommeln, gesellt sich unmerklich lauter werdend ein wellenartiges Rauschen hinzu. Erst nach einer Weile verstehe ich: Es ist das Geräusch des Atems, der durch verengte Stimmritzen ein- und ausfließt. Zwei miteinander verwobene Zyklen.
Trägt Camille den Atem oder trägt der Atem ihn auf seiner kreisförmigen Bahn entlang? Sehen wir den Cowboy oder das Pferd? Das Rauschen bewegt sich durch den Raum und berührt mich, wie eine durch ein Mikrofon flüsternde Stimme, intim und zugleich distanziert. Ich höre jetzt auch meinen eigenen Atem. Mit jedem Kreis falle ich etwas tiefer in den Stuhl und in ein angenehmes Gefühl der Endlosigkeit. In einer Textpassage über das Ritornell (ital.: Wiederkehr) schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari über das Ziehen eines Kreises als den Beginn einer Ordnung im Chaos. So beruhige sich ein Kind, das im Dunklen Angst bekommt, indem es ein Lied vor sich hin summt und damit einen sicheren Raum des Bekannten rundherum erschafft. Mit der „Expressivität des Rhythmus“ entsteht ein Territorium.
Beim nächsten Vorübergehen lehne ich mich ein Stück nach vorne, um etwas von dem Wind zu spüren, den Camilles bestimmtes Traben erzeugt. Wohin führt uns dieser Ritt? Gibt es ein Ziel oder bewegen wir uns um der Bewegung willen fort? Rundherum Weite. Aus dem Kreis wird eine liegende Acht – Symbol der Unendlichkeit – , die sich langsam der ersten Publikumsreihe nähert. Die Acht wird kleiner. Camilles Handflächen öffnen sich, die Finger streifen die Schenkel in der ersten Reihe. Der Blick des Performers ist weiterhin geradeaus gerichtet. Wie viele Schleifen muss man ziehen, wie viele Umwege gehen, Hindernisse überwinden, um sich nah zu kommen, eine Begegnung zu wagen? Was steht weiterhin zwischen uns? Wer bist Du eigentlich? Was willst Du? Ich frage mich, wie sich die Leute neben mir fühlen, die im Zuge dieser seltsamen Expansionsbewegung berührt und dabei nicht angesehen werden.
Wechsel zur Front: Camille zieht sich auf die Mitte der Bühne zurück, sein Gesicht wird zur Maske. „Ich habe euch fest im Blick“ scheint er* zu sagen, während die Arme weit geöffnet, die Hände fühlend eine dazu gar nicht passen wollende Haltung der Offenherzigkeit vermitteln. Es ist diese Mischung aus Dominanz und Verletzlichkeit, die mich bis zum Ende des Stückes irritieren und dabei festhalten wird. Was passiert hier? Geht es um Macht oder um Angst? Um Begehren und Sehnsucht nach Berührung oder um Behauptung und Abgrenzung? Wer steht da vor mir? Ich sehe dabei zu, wie Camille wechselnde Posen einnimmt, mit denen er* zum Sieger, Bodybuilder, zum Mann, zur Frau, zum Pornostar wird. Er* dehnt sich in diese Formen machtvoller, sexualisierter Körperlichkeit hinein, als wolle er* sie auf ihre Elastizität überprüfen, strapaziert sie bis zum Extrem, bevor sie zerfallen und er* sich erneut verwandelt.
Indessen denke ich darüber nach, was diese Performance von mir als Zuschauerin will. Soll ich den Cowboy bewundern oder Mitleid mit ihm haben? Könnte das eine Ermutigung dazu sein, ebenfalls aufzustehen, meinen unausgelebten Machtphantasien Raum zu geben und Sichtbarkeit für sie einzufordern? Oder ist das eine Erziehungsmaßnahme, welche das Ziel verfolgt, meine Abneigung gegen Machtgebaren jeglicher Art zu schüren und stellvertretend auf den Performer zu ziehen, mich zu erziehen, Rollenvorbilder wie den Cowboy kritischer zu sehen?
Der andauernde Wechsel zwischen der Performance sexueller Dominanz einerseits und einer Aufforderung zu Anteilnahme und Komplizenschaft andererseits, stellt meine Gefühle vor eine wahre Herausforderung, die bisweilen auch unangenehm wird. Als Zuschauerin, die sich an die Konventionen halten und nicht aufstehen wird, um auf einladende Blicke zu reagieren, mitzutanzen oder zu gehen, fühle mich einem Spiel mit meiner Aufmerksamkeit und meinen Grenzen ausgesetzt. Was würde sich an dieser Arbeit ändern, wenn es die Freiheit gäbe, zu gehen – oder mitzumachen?
Kurz bevor Camille abgeht, lässt er* die Cowboymaske nochmal fallen. Am Rand der Bühne stehend lenkt er* durch seinen Blick meine Aufmerksamkeit auf den leeren Raum, in dessen Stille nun der rasende Ritt der letzten halben Stunde nachklingt. Ich höre jetzt wieder meinen eigenen Atem und kurz durchfährt mich die Vorstellung, dass, gemäß des Prinzips des Kreises, gleich ein nächster berittener Nomade hier auftauchen wird, um diesen Raum für eine Weile mit einem Lied, mit einem Tanz zu seinem, oder ihrem, temporären Territorium zu machen.
Geoffrey Watson: Geoffrey's Corpse, Pieces 5-4 and 5-5; John Spurlock
Auf einer Bahre aus drapierten weißen Laken liegt der nackte Körper eines jungen Mannes, der Schwerkraft hingegeben, ohne jede Spannung: John Spurlock. Seine langen Haare fallen über ein Kissen, ein schwarzes Tuch bedeckt seine Brust. Daneben kniet ein zweiter Mann. Ich nehme an, Geoffrey Watson. Aus den Publikumsreihen ist nur sein ebenfalls nackter, ölig glänzender Rücken zu sehen. Mit einer kleinen Schere beugt er sich über den liegenden Körper und schneidet vorsichtig einzelne Büschel Schamhaar rund um dessen Penis ab, eine Handlung, die fürsorglich und schmerzhaft zugleich aussieht. Von oben fällt Scheinwerferlicht auf die Szene und besonders prominent, durch einen Rahmen, auf das Geschlechtsorgan. Ein wenig strahlt das Licht auch in den sonst eher dunklen Raum, wo auf dem Boden benutzte rosa Kaltwachsstreifen verstreut sind. In der Luft liegt der süßliche Geruch des Öls zur Nachbehandlung epilierter Hautstellen.
Mit halber Stimme spricht der liegende John Spurlock Worte und Sätze aus, von welchen ich nur einzelne Fetzen verstehe: „early morning“ und „half-awake“ und „hugging myself“. Was ich hören kann, klingt nach der intimen Rede eines Liebenden. Dass seine Worte so leise und zart sind, zieht mich in den Raum der Nähe zwischen den beiden hinein. Ich wünsche mir, ich könnte mehr hören. Ab und zu lacht John Spurlock glucksend oder seufzt. Später scheint mir sein Bericht in Anekdoten über gemeinsame Bekannte überzugehen – eine Schlange vor dem Berghain, eine Frau, die sich „squirrel“ nennt – und er verliert meine Aufmerksamkeit.
Im Kontrast zur Intimität dieses langsamen installativ wirkenden Duetts bewegen sich zwei weitere Performer*innen in hellblauem Pyjama und Morgenmantel jeweils mit einer Kamera in der Hand rund um die Szene herum. Was sie durch ihre Apparate betrachten und aufnehmen, kann ich von meinem Stuhl im Publikum aus auf zwei Bildschirmen verfolgen: die tränennassen Augen des liegenden John Spurlock, die in das Nichts an der Decke über ihm starren, seine Lippen beim Sprechen, die Anstrengung in Geoffreys Gesicht, der die Feinmotorik seiner Hände bemüht, um die abgeschnittenen Schamhaare in einem Kranz auf einer Klebefolie anzuordnen.
„Geoffrey's Corps“ macht mich zur Zeugin eines seltsamen intimen Akts, der meine Fantasie von einem Operationssaal zur Jesuspassion, auf ein Sterbebett, einen Opfertisch und in eine Liebeshöhle befördert, ohne dass ich bei einem dieser Bilder bleiben kann. Diese Form der physischen Hingabe an den anderen scheint, obwohl sie all diese Kontexte wachruft, in ihrer Funktion weder allein dem sexuellen Begehren, noch der medizinischen Pflege oder forensischen Wissensproduktion zu dienen.
Das Festhalten des Geschehens durch das Medium der Kamera, seine videotechnische Dokumentation und Vermittlung, bringen mich dieser Szene in manchen Momenten näher und distanzieren mich in anderen. So bin ich etwa gefesselt von einem langen Blick, der mich aus dem Bildschirm heraus fixiert. John Spurlocks Stimme im Raum sagt indessen „I worried about you in the past weeks“ und seine Worte treffen mich direkt. Später kehre ich mit meiner Betrachtung zurück in den ganzen Raum, beobachte die sich darin bewegenden Körper, Apparate und Bilder von Ferne in ihrem Verhältnis zueinander. Auf diese Weise werden in unserer Gesellschaft Wahrheiten produziert.
Ich könnte den Millionen möglicher Konstellationen noch viel länger zusehen. Im Stück allerdings passiert, für mein Gefühl etwas zu früh, ein Szenenwechsel: John Spurlock erhebt sich, und Geoffrey, der ihn bisher behandelte, holt aus dem Nebenraum einen Fensterrahmen. Während die soeben entstandene Haarcollage in diesem gerahmt wird, ertönt eine Melodie, die an spießige Liebesfilme aus den 50er Jahren erinnert. Geoffrey darf sich jetzt anziehen, während John Spurlock glücklich das Kunstwerk bewundert. Es folgt die Enthüllung zweier übergroßer Portraits von Geoffrey und John Spurlock, die aus den obersten Fenstern der Raumes wie zwei großmütige Jünglinge von Adel auf uns hinunter lächeln.
Das witzig-absurde Repräsentationsspektakel fällt schließlich beinahe abrupt in sich zusammen, als die Kameras ausgeschaltet und an einer Kleiderstange hängend eine Kollektion modischer Accessoires aus Haaren und künstlichen Brustwarzen in den Raum geschoben werden. Man sagt mir, es sei jetzt vorbei und ich könne hier etwas kaufen. Die vier meinen es ernst, aber soweit ich es mitbekomme, ersteht niemand etwas. Die meisten Leute stehen auf und gehen. Ich hätte gerne gesehen, wie die Auktion von John-Spurlock-Fetischartikeln bzw. John-Spurlock-Reliquien verlaufen wäre, wenn sie nicht aus dem Stück ausgelagert worden wäre. Gerade im Zusammenhang mit der Verhandlung von Intimität und Distanz, Privatheit und Öffentlichkeit, Räumlich-Körperlichem und bildlich vermittelter Repräsentation wäre eine bewusstere Gestaltung des Kundenkontakts mit dem Publikum am Ende des Stücks eventuell fruchtbar und spannend gewesen.