Text zu NAH DRAN 66 (21./22. Oktober 2017) von Alexandra Hennig und Johanna Withelm
INTRO#
Dieser Text ist eine kollaborative Auseinandersetzung mit den drei Arbeiten von NAH DRAN 66: 1) Turtle: Raffaella Galdi /Laura Giuntoli /Lina Kukulis. 2) siam: tangente
company/Johanna Jörns & Selina Menzel. 3) Camouflage: Lena Strützke.
Der Textkörper entsteht nach dem Prinzip des Reingrätschens. Eine Studioschreiberin beginnt, wobei Kommentare, Rückfragen und Anmerkungen der Anderen ihren Text in kursiven Einschüben
unterbrechen, vom Weg abkommen lassen oder weiter denken…Wir haben uns im Folgenden erlaubt, die drei Arbeiten besonders unter den Parametern Bewegung und Kostüm zu betrachten.
Von dort ein Sprung zur Aufführbarkeit von Tanzklassen-Repertoire, von Altem und Neuen und über Madonna zu Transparenz und Enthüllung.
Laura Giuntoli und Lina Kukulis bewegen sich in Turtle nicht – wie es der Titel nahelegen würde – wie Schildkröten, sondern vielmehr wie moderne Tänzerinnen des vergangenen Jahrhunderts.
Wobei Schildkröten ja auch sehr alt werden, was gut zum Altmodischen der Bewegung passt. Die beiden arbeiten vor allem mit Extremitäten, die sich aus dem Rumpf emporstrecken und die Körper
kraftvoll umschmiegen- energetisch und fließend lassen sie die Bewegungsimpulse aus dem Körperzentrum bis in die Fingerspitzen gleiten, nehmen alle Bewegungsenergie zusammen um sich kleinzumachen
und dann wieder lang zu werden, alles im organischen Fluss und mit gezielt eingesetztem Kraftaufwand. Agil und wendig rauschen sie umher, wechseln flink die Ebenen im Raum. Auch die Partnerarbeit
erscheint recht altmodisch: Das Geben und Nehmen von Bewegungsimpulsen, das Manipulieren der Anderen, solide ausgeführt, und am Ende tanzen doch beide noch synchron: ein paar Schulterrollen, die
in keiner zeitgenössischen Tanzklasse fehlen dürfen ... Dieses etwas leer wirkende Material steht im irritierenden Kontrast zu der expressiv-dramatischen Attitüde der Tänzerinnen, die uns
wahrscheinlich etwas sagen soll. Aber was ?
Ich erkenne in der Partnerarbeit der beiden ein klassisch-altmodisches(?) Beziehungsmodell zwischen Distanz, Annäherung, Zuwendung und Abweisung. Aber das scheint jetzt auch nicht vor
Innovation zu sprühen.
Ähnlich rückwärtsgewandt ist das Bewegungsmaterial in dem von Johanna Jörns und Selina Menzel getanzten Duett siam, auch hier ist die Tanzausbildung sichtbar, wir sehen Schritte und
Hebungen die in der Schule gelernt wurden, schön ausgeführt, aber irgendeinen Bruch, eine Überraschung sucht frau hier vergeblich –
Bruch. Bruchstück, Abbruch – Stilbruch: Ich denke an diesem Abend vor allem über Kostüme nach. Was unterscheidet ein gewagtes, gelungenes Kostüm von einer Verkleidung? Nochmal zurück zum
ersten Stück Turtle. Die Tänzerinnen in den grün-türkisen Ganzkörperanzügen, die sich wie Latex an ihre Körper schmiegen, verleihen ihnen ein amphibienhaftes Antlitz. Zwei Frösche, zwei
Schildkröten oder Salamander, je nachdem. Jedenfalls stellt dieses Kostüm die Bewegungsqualitäten – die allzu vorhersehbar, jedoch schön anzusehen sind – fast in den Schatten. Es braucht schon
etwas Vorstellungskraft, um die glitschige Teich-Atmo abzuschütteln. Was sich hinter diesem Kostüm- Panzer verbirgt, ist das Potenzial zweier ausdrucksstarker Tänzerinnen, die der Kostümierung
zum Trotz ihre Souveränität nicht einbüßen. Metamorphosen...
Im Unterschied zu Turtle jedoch wurde in siam versucht, in der Arbeit mit dem Kostüm (Pullover) die Innovation zu finden: Das Gefangensein im Pullover und das Kleben an der anderen Person
als Restriktion generiert Material für die Partnerbewegung, das sonst vielleicht nicht zustande kommen würde. Ich würde sagen: Das sich genau daraus generiert! Ein interessanter
Ansatz – aber auch hier sehe ich durchweg recht unspezifisches Bewegungsmaterial: tiefe Schritte im Plié, sich lang reckende Arme, klassische Partnerhebungen, das Geben und Nehmen vom
Körpergewicht der Anderen... Solide ausgeführt und schön anzusehen. Ich sehe im zweiten Stück den durchaus gelungenen Versuch, eine klare und schlichte Frage zu stellen und diese tänzerisch
umzusetzen: Wie bewegen sich zwei Tänzer*innen in einem Pullover? Wie formt Kostüm unsere Wahrnehmung der Körper? Wie viel Raum liegt zwischen Körperhülle und Kleidungsstück? Formen zwei Köpfe
auf einer Schulter schon ein Fabelwesen? Ich mochte die Abwechslung zwischen der bildhaften Auslegung der Choreografie und dem Tänzerischen der Alltagsbewegungen. Stoff zusammenlegen, Pullover
überziehen, abstreifen.
Das Kostüm als dritte*r Tanzpartner*in – als Form, die zwischen ihnen steht, ihnen wörtlich gesprochen aber auch etwas an die Hand gibt.
Das Problem der ersten beiden Stücke dieses Abends: Als Workshop-Präsentation oder getanzte Choreografie im Studio innerhalb eines Kurses wäre das bestimmt toll, und bestimmt macht das auch Spaß.
Aber warum das auf eine Bühne bringen? Das bringt mich wieder zu der Frage: Warum sollte frau sich überhaupt Menschen anschauen, die tanzen? Du hast die Bewegungsqualität der beiden Stücke so
präzise und bewegt – ich möchte sagen tänzerisch – beschrieben. Ist es nicht paradox, dass sie dich ansonsten ratlos zurück gelassen haben? Anlass genug, die Aufführbarkeit dieser Tanzstücke zu
bezweifeln oder diese Frage herauszufordern. Gerade, wo beide Stücke den Zuschauer*innenblick mit großer Geste für sich einfordern: Schaut her, wie gut wir geübt haben! Wir haben uns in besondere
Kostüme geworfen und schöne Musik ausgesucht – das ist Kunst!
Wird die Kunst zur leeren Blase, sobald man allzu leicht dahinter kommt?
Anders verhält es sich hingegen in Camouflage von Lena Strützke: Sehr ruhig beginnt sie sich mit geschlossenen Augen am Boden zu bewegen, langsam und zaghaft streicht sie die Arme über den
Kopf, formt die Hände vor sich zum Gefäß. In dieser Geste liegt etwas wie Entblößung und das ist vielleicht besonders interessant, wo es hier um Tarnung, Transparenz und Sichtbarkeit geht. Von
dort aus bringt sie sich in Rückbeuge und präsentiert ihren Kopf verkehrtherum, die Augen bleiben geschlossen. Ihre Bewegungen sind reduziert und dabei sehr persönlich, sie sind verschlossen und
nach innen gekehrt, lassen eine tief sitzende und irgendwie aufrichtige Verletzbarkeit ahnen. Wow – ja, das habe ich auch gesehen. Etwas Fragiles, Ehrliches liegt in diesen Gesten, die stark
an Kampfkunst oder Meditation erinnern. Die geschlossenen Augen tragen sicher dazu bei. Wenn Studioschreiber*innen schon von Aufrichtigkeit sprechen…Wenn das kein Kompliment ist! Diese
Qualität ändert sich, wenn Lena Strützke aufsteht, von den Tänzerinnen Emma Hedemann Christensen, Eva Weibel und Johanna Ryynänen mit Taschenlampen angeleuchtet wird und sich noch immer langsam,
aber nun mit geöffneten Augen souverän, ernsthaft und cool in Szene setzt. Was dann folgt, wirkt wie eine Selbstermächtigung, wenn die drei eine Art Tanz der Göttinnen („All the single
ladies!“) präsentieren: sie vorne in der Mitte, zwei Tänzerinnen rechts und links etwas weiter hinten – die Ikone und ihre Backgroundtänzerinnen (Vom Club auf die Bühne). Immer
noch langsam, aber nun sich explizit preisgebend und frontal zum Publikum gerichtet, wandern sie unisono von einer ausgestellten Pose zur Nächsten (come on: Vogue!). Clever und subtil
setzen sie scheinbar simples Bewegungsmaterial ein, das mit Zitaten aus der Popkultur (Beyoncé / Madonna / Kleopatra) arbeitet und damit vielschichtige Assoziationen eröffnet: zarte
Anlehnungen an Hip Hop Moves, asiatische Kampfkünste und Superheldinnen fließen hier zusammen: Ich sehe Lara Croft und ihre zwei Gefährtinnen, sehe den Tanz dreier hoheitsvoller Geishas, oder
Madonna's Vogue – bei den MTV Video Music Awards 1990. Dieses Spiel mit Bildern und Assoziationen, hervorgerufen durch die tänzerische Bewegung, ist spannend anzusehen und setzt das
persönliche sowie universelle Thema „Camouflage“ geschickt um: der Spagat zwischen Selbstpräsentation (als Frau) auf der Bühne, dem Sich Ausstellen und der Hingabe an das Publikum und der damit
einhergehenden Verletzbarkeit. Zwischen Tarnung und Preisgabe.