Text zu Alumni.Tanz.Berlin-Festival/Programm 1 (3./4. Mai 2018) von Gast-Studioschreiberin Christine Matschke

 

 

Alumni.Tanz.Berlin-Festival - Erster Abend: eine Erfahrung von Raum und Zeit /Außenraum/Innenraum / Atmosphärisch in der Schwebe, rätselhaft / wie ein Museumsbesuch

 

Land Art #1
INNER/ Marlene Naumann & Cathleen Rabe: Zwei Schwestern

Abendlicht. Der Wind pfeift über den Ziegelstein gesäumten Hof der Uferstudios. Marlene Naumann und Cathleen Rabe stehen sich gegenüber; beinahe identisch gekleidet, in bodenlangen dunkelroten Röcken und so dicht beieinander, dass ihre Gesichter sich fast berühren — eine zweisame Einheit mit Spalt. Zwischen ihren Körpern spannen die zwei Frauen alsbald die Weite des Hofes auf, bleiben aber untrennbar und wie in spukhafter Fernwirkung miteinander verbunden: keine Bewegung der anderen, die im eigenen Bewegt-Sein unbemerkt bleibt. Instinkthaft wirkt die Beziehung, die sich hier abzeichnet; auch mystisch, wenn Naumann und Rabe die Röcke zu Ponchos auf die Schultern ziehen und darunter ihre Arme ausbreiten, um sich von Podest zu Podest wie von Berg zu Berg und jenseits des (Wissens-)Horizonts des Publikums in einer Art physischen Geheimsprache auszutauschen. „Zwei Schwestern“ entwirft sich als eigenwilliges Stadtlandschafts-Duette für zwei (un)verwandte Seelen. Nähe und Distanz, Vertrauen und Befremden sowie Menschliches und Animalisches werden hier geheimnisvoll und zugleich suchend in der Schwebe gehalten. Tilman Dehnhards schwirrend-zittriger Wind-Sound spinnt dazu einen seidenen Faden in die karge und verlassene Landschaft – eine Art Prärie, die während der Performance in meiner Phantasie an Weite gewinnt.

Notiz: Auf ihrem Instant-Atlas aus Bild und Text assoziieren Agnes Kern & Valentin Schmehl zu dieser Performance: Loïe Fuller und Martha Graham. An diese Stelle der Collage klebe ich einen schwarzen Punkt. Denn, ja gut, die wie Stoffbahnen aufgespannten bzw. aufgefächerten Röcke der beiden Schwestern, können an Fullers Stab geführten Tänze oder jene Tänze von Graham erinnern. Meiner Meinung nach aber nur sehr entfernt. Interessant bleibt die Frage, was Schmehl & Kern aus diesen ersten Assoziationsspuren machen würden, wenn sie sich entschlössen, diese weiterzuverfolgen. Den Instant-Atlas verstehen sie als eine erste und freie Annäherung an die Performances dieses Festivals. D.h., nach ihrer an Aby Warburgs Bildatlas angelehnten Methode darf erst einmal alles sein — laut, bunt, schrill und ungeordnet!


White Cube #1
Edgar C.: It Used To Be Like That

Vier Stuhlreihen markieren einen White Cube, auf dessen Boden unbeweglich sieben Performer*innen sitzen, die jeweils in unterschiedliche Richtungen ausgerichtet sind. „Können diese Körper herausragende Kunstwerke (...) sein?“ fragt das siebenköpfige Kollektiv in der Vorankündigung dieser Performance. Um das herauszufinden, hat das Publikum (nach meiner Einteilung) sechs Szenen lang Zeit. Szene 1: wie oben beschrieben, menschlicher Skulpturengarten, indoor. Szene 2: In einer Ecke des Kubus stellen sich sechs der Performer*innen in einem Halbkreis auf, die siebte hockt mittig vor ihnen. Szene 3: eine Gruppenimprovisation, die trippelnden Schrittes verläuft. Dazu läuft der Song „Whispering Grass“ (1940). Hier wird das erste Mal in der Performance so etwas wie Narrativität spürbar, angedeutet über Zweierkonstellationen zwischen den Performer*innen und durch den Text des besagten Songs (— das ist nicht als Wertung, sondern als Tatsache gemeint). Szene 4: Auch Zungen sind Muskel; wie selbstverständlich eingesetzte Körperglieder, die Raumrichtungen ändern und tanzen können. Szene 5: Die Muskeln der Körper geben nach. Die sieben Performer*innen bewegen sich auf wackligen Füssen durch den markierten White Cube und sinken immer wieder in sich zusammen als würden sie zusammenbrechen. Szene 6: alle sieben Performer*innen bespielen eine weitere Ecke des Kubus. Sie hüpfen gemeinsam auf der Stelle. Sie atmen immer lauter, bis sie außer Atem kommen. Ende.
Zurück zu Szene 2: Sie ist für mich an diesem Abend die einprägsamste Szene. Und um auf die Frage des Kollektivs zu antworten: Diese Körper können für mich mit herausragenden Kunstwerken in Beziehung treten. Szene 2, in der die im Halbkreis stehenden Performer*innen in Zeitlupe über Mimik und Gestik sehr unterschiedliche Gefühlszustände zum Ausdruck bringen, erinnert mich an Bill Violas „The Quintet oft the Astonished”:

Fast unmerklich verändern sich Gesichtsausdruck und Körperhaltung der fünf Personen. Dicht gedrängt spielen sie getrennt voneinander eine Abfolge starker und widersprüchlicher Gemütszustände wie Sorge, Ärger, Angst und Freude. Angestoßen von ergreifenden Passionsdarstellungen der Alten Meister widmet Bill Viola viele seiner Videoarbeiten dem Ausdruck und der Darstellung von Gefühlen. 
Für The Quintet of the Astonished (Das Quintett der Erstaunten) nimmt der Künstler die professionellen Darsteller mit einer Hochgeschwindigkeitskamera auf, die 240 Bilder pro Sekunde macht. Eine Minute Ausgangsmaterial dehnt Viola so auf 15 Minuten aus. Mimik und Gestik sind sezierend verlangsamt und sämtliche Nuancen von Leid, Erstaunen und Freude intensiv erfahrbar.
(https://www.kunstsammlung.de/entdecken/kuenstlerraeume/1-etage/bill-viola.html)
Die Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen in „It used to be like that” ändern sich nicht unmerklich, sondern merklich – hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu Violas Videoarbeit. Auch besticht Szene 2 durch eine kontrapunktische Gegenüberstellung von Chor (Halbkreis) und einzelner Performerin, die mit neutralem Gesicht und in Hockstellung wie ein energetisches Echo auf dessen extrem gedehnte Bewegungen reagiert. Als der Chor die einzelne Performerin mit seinen Körpern umschließt, ist die Spannung dieser kontrapunktisch gesetzten choreografischen Elemente für mich am stärksten zu spüren. Die einzelne Performerin scheint wie in einer Blase eingeschlossen zu sein. Schade, dass sie alsbald aufsteht und sich unter die Gruppe mischt. Was hätte aus diesem spannenden Moment sonst noch werden können!?

Notiz #1: Der Techniker dieses Festivalabends verrät mir, dass die sieben Performer*innen jede technische Entscheidung für die Aufführung im Kollektiv getroffen haben. Ich bin beeindruckt und finde, dieses geübte Miteinander kann man auch während der Performance spüren – Wer wohl der geheimnisvolle Edgar C. ist, der sich als Urheber dieser Gruppenchoreografie ausgibt?!

Notiz #2: Im Instant-Atlas verzeichnen Agnes Kern & Valentin Schmehl folgende Assoziationen: Eine Art antikes Relief und die Frage „Facial expressions — a current topic in dance?”, dazu sieht man Gesichtsausdrücke, die einschlägigen Werken aus der bildenden Kunst entstammen. Ich klebe grüne Punkte an diese Stellen der Collage und stimme damit zu, dass ich zu dieser Performance ähnliche Assoziationen hatte. Hier und jetzt möchte ich die Collage gerne um Edvard Munchs ”Der Schrei” ergänzen. Nicht allein wegen des Schreis, sondern auch wegen der Art, wie dieses Gemälde gestaltet ist. Seine wellenförmige Struktur entspricht für mich der extrem zeitlichen Dehnung und gedehnten Verformung der Gesichter in Szene 2 der oben beschriebenen Performance.


White Cube #2
Hanna Kritten Tangsoo: The blue blue me

Zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht aussehen könnten (— die eine recht weiblich, mit rosigen Wangen und die andere feingliedrig, mit markanten Wangenknochen —) stehen mit hängenden Armen und weiten Hosen aus weich fließendem Stoff vor einer Ansammlung dicht an dicht liegender, weißer Luftballons. Zwei der Luftballons sind bereits zur Studiodecke aufgestiegen, wurden gebremst in ihrem (vermeintlich) unendlichen Flug.
In den Körpern der Frauen scheint sanft Luft zu zirkulieren, die jede ihrer extrem verlangsamten Bewegungen von innen heraus in den Raum hineinwachsen lässt. Wie an seidenen Fäden hängen ihre Glieder zerbrechlich, schwerelos und seltsam der Zeit enthoben in jenem skulptural anmutenden und zylinderförmigen Luftblasen-Raum, den sie zwischen Boden und Decke zusammen mit den Luftballons in der Mitte des Studios etablieren. Ihr Blick wirkt dabei wie nach innen geheftet, an eine sich behutsam aufrichtende und wieder zusammenfaltende Anatomie. Hier, zwischen Bühnen-Himmel und -Erde, scheint alles zu fließen und gleichsam beinahe still zu stehen; lebendig zu sein, aber auch wie ausgestorben. Die installative und atmosphärische Performance „The blue blue me” schafft ein rätselhaftes Raum-Zeit-Kontinuum, das Alltagsgesten seltsam entrückt, unentschlossen schwebend zwischen zuckerwattig-leichten Kindheitserinnerungen und Melancholie durchtränkter Nostalgie ..., bis die Blase mit lautem Knallen zerplatzt und die geheimnisvolle Atmosphäre von jetzt auf gleich auflöst — „It´s just another ordinary miracle today”

Notiz: Der Instant-Atlas zeigt ein paar Märchenbuchbilder, ergänzt durch die Worte „Schneeweißchen & Rosenrot”.


White Cube #3
Pauline Payen: Something Sticky is Stuck

Eine adrette junge Frau – schwarze Stoffhose, weiße Bluse und Hochsteckfrisur – tritt selbstbewussten sowie schwungvollen Schrittes auf die Bühne und schmeißt sich lächelnd in Pose. Die eine Hand in die Hüfte gestemmt, trägt sie auf der anderen, karyatidengleich, (Karyatide – Gebälkträgerin) einen Ziegelstein. Zu locker beschwingter Fahrstuhlmusik flirtet sie mit dem Publikum und tut so als hätte der Stein kein Gewicht. Doch allmählich beginnen ihre Gesichtszüge zu zittern und zwischen die aufgesetzten Leichtigkeitsminen mischt sich, mit kokett verdrehten Augen, eine bislang überspielte körperliche Anstrengung – diese Performance ist ein clownesker Balanceakt, eine amüsante Unterhaltsamkeit, die mit der Idee des schönen Scheins spielt. Letztere findet ihren Anschluss in einer Szene, in der Pauline Payen den Satz „I´m getting payed for being me” wiederholt. Übt sie damit Kritik an Vorbildern aus der Werbung, die vor oberflächlicher Glückseligkeit strotzenden?! Wenn das so wäre, dann setzt Payen an die Stelle eines vielversprechenden Produkts – ich spule in Gedanken zur Anfangsszene zurück – einen Ziegelstein! Am Ende der Performance, nach einer langen und (für mich) recht unverständlichen Posen-Odyssee, lehnt sich Payen an eine der Studiowände, um sich eine (imaginäre) Zigarette anzuzünden. Dabei wirkt sie als müsse sie sich von ihrem zweiten, aufgesetzten Ich erholen. Ein Zweit-Ich, das so seine Scherze mit ihr treibt. Payen tritt hier in ironische Distanz zu sich selbst ... Und die Zigarette? —„Liberté toujours” verspricht eine bekannte französische Zigarettenmarke. Auch bei Payen wird dem Publikum ein Unabhängigkeitsgefühl suggeriert, das allerdings ganz bewusst auf wackeligen Füßen steht.

Notiz: Vielen Dank an Agnes Kern und Valentin Schmehl für ein paar ausgeschnittene Werbefotos, die makellos schöne und junge Frauen zeigen, die in souveräner Pose vor einem Schälchen Salat sitzen. Dazu haben Kern & Schmehl Payens Kernsatz „I´m getting payed for being me“ notiert. Eine sehr treffende Assoziation im Instant-Atlas, die zu einem inspirierenden Puzzleteil in meinem Gedankensammelsurium zur Performance wurde.


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

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