Text zu NAH DRAN 58 (20./21. August 2016) von Alexandra Hennig
Die ada-Spielzeit 2016/17 wird von drei Stücken eröffnet, die allesamt zum Boden gefunden haben. Dieser musste nach dem „Utopische[n] Erfolg“ erstmal gründlich gewischt werden.
Gerahmt wird das Stück von zwei Soli: „Why look at animals?“ und „foreign body_solo“, in denen die Tänzerinnen beeindruckende Bewegungsmuster entlang der Horizontalen
ausführen.
„why look at animals?”
Der Reihe nach: Daniella Kaufman stellt in „ why look at animals?“ die laut Begleittext nicht rhetorisch gemeinte Frage: „Warum Tiere betrachten?“ Sie rückt die Choreografie für die
Tänzerin Eli Cohen in die Nähe eines Diskurses um Darwin (Evolution vom „Ursprung der Spezies“ hin zur „Maschine“) und Descartes (Körper-Geist-Trennung und die „Logik der Mechanik“).
Zugegeben erinnere ich mich im Laufe der Aufführung einige Male an ein Feldenkrais-Seminar, in dem wir mal eben die Evolution vom Einzeller-zum Amphibien-Wesen-zum-aufrechten-Gang
erprobt haben...Dieser Vergleich wird der tänzerischen Leistung von Eli Cohen jedoch keineswegs gerecht: Sie gleitet und schiebt sich kriechend-tanzend so gekonnt über die ada-Bühne, dass sich
die Frage nach dem Warum der Betrachtung nicht mehr stellt.
Ein Körper, gekleidet in grau-glänzender weiter Hose und hellem mintgrünen Oberteil liegt flach auf dem Bauch. Die Arme sind seitlich neben dem Kopf abgelegt und bilden einen rechten Winkel
zwischen Ober-und Unterarmen. Das Gesicht ist nach links geneigt und wird den Blicken der meisten Zuschauer*innen fast bis zum Ende des Stücks verborgen bleiben. Bevor wir uns an den Anblick des
scheinbar unbeteiligt daliegenden Körpers gewöhnen, schlägt der Atem Wellen. Vom Bauch wandern die Wellen zum Po und den Oberschenkeln bis hin zu den Füßen, wieder hinauf zum Rücken – der Körper
hebt und senkt sich wellenförmig. Die Hüfte wiegt von Seite zu Seite, eine Rückwärts- und Vorwärts-Bewegung setzt ein und die Flächen der Hände, Arme, Oberschenkel und Schienbeine schieben den
Körper über den Boden. In dieser wellenartigen Fortbewegung durchmisst die Tänzerin die Bühne.
Unerwartet ertönt ein kurzer aber eindringlicher Signalton. Dazu mischt sich eine Soundkollage aus elektronisch-maschinellen Tönen, Hustern und Räusperern, die zu einem diffusen Beat übergehen
(Sounddesign: Aunung Heemyung Yan). Evolutionstechnisch soll scheinbar das Einsetzen der Maschinen verlautet werden.
Ein heikler Moment entsteht, wenn Eli Cohen zum aufrechten Stand ansetzt. Ich vermute schon, das Stück endet mit beiden Beinen fest am Boden – Homo Sapiens eben – offener Blick geradeaus – aber:
Der Kopf legt sich sogleich in den Nacken, der Körper kippt nach hinten weg, richtet sich wieder auf und findet mehrere Male gekonnt zum Boden zurück, bis er schließlich durch die geöffnete Tür
in den Flur entschwindet.
Daniella Kaufman hat in dieser Choreografie ein konsequent reduziertes Bewegungsvokabular erarbeitet, das ganz in den Körper der Tänzerin Eingang gefunden hat. Gegen Ende der Arbeit erinnern mich
einige Sequenzen, in denen ein fragmentarisches Gebilde des Körpers in Erscheinung tritt (eingeklappter Oberkörper, Drehungen des Körpers, schräg-verschraubte Rückenansichten, vom Oberteil
verdeckter Kopf) an Isabelle Schads „Unturtled“ oder Xavier le Roys „Self Unfinished“.
Auch, wenn ich die narrative ‚Darwin-Kurve‘ und den ‚Mensch-Maschine‘-Kontext gerne ausklammern möchte: Die paradoxe Fragestellung, auf die keine Antworten verlangt werden: „Es geht darum zu
schauen und im Gegenzug nichts zu erwarten“ (Begleittext), findet eine schöne Übersetzung in der performativen und tänzerischen Qualität dieser Soloarbeit.
„Utopischer Erfolg“
Bodenlose Freiheiten greifen um sich in dem Stück „Utopischer Erfolg“, choreografiert von Jara Serrano, die zusammen mit ihren Tänzerinnen Lola Agostini und Luciana Cousinet eine
Dramaturgie von Be- und Ent-grenzung geschaffen hat. Ihr Thema ist der (weibliche) Körper in der neoliberalen Arbeitswelt, wobei nicht deutlich wird, ob wir uns im (prekären) Tänzer*innenalltag
oder im Großraumbüro befinden. In ihren dunkelblauen Overalls nehmen die drei über die Dauer des Stücks kämpferische wie abgekämpfte Züge an: „ […] sie müssen durchhalten, sie müssen weiter.“
(Begleittext zum Stück)
Die Früchte des „Systems“, in dem sie feststecken, werden auf einem Tablett serviert: Jemand bringt bunte Donuts, Wiener Würstchen und Toastscheiben herein und reiht sie vor einer der Tänzerinnen
auf. Diese nimmt einen Donut in die Hand, zermatscht ihn zwischen ihren Fingern, nimmt einen Bissen, verteilt die restliche Masse auf ihrem Körper…
Vor die anderen Beiden werden zwei große Stapel Papier platziert - darauf stehen, wie ich erst nach dem Stück erkennen kann, Stichworte wie „Erschöpfung“ / „Überlastung“ / „Apathie“ /
„Ineffektivität“.
Vor den Papierstapeln sinken die zwei Tänzerinnen immer wieder unter würgend-röchelnden Lauten in sich zusammen, betrachten die Stapel voller Ekel, um widerwillig eines der Blätter aufzunehmen
und fallen zu lassen.
Inzwischen hat sich die hintere Ecke des ada Studios in eine Installation aus Donut-Toast-und-Würstchen-Matsch verwandelt, in der die dritte Tänzerin sich unbeirrt am Boden wälzt.
Musik setzt ein und dazu eine modern-zeitgenössischen Gruppen-Choreografie, in der sie zu dritt den Raum durchqueren und deren Jazz-Elemente ihnen eine gewisse ‚dancyness‘ verleihen, ohne nur
Dekoration zu sein. Auf jeden Fall: ‚drei tolle Tänzerinnen, denen man gerne zuschaut!‘, denke ich, bevor der Tablett-Träger sechs Tassen Kaffee vorbei bringt.
Ja, wir sind wirklich NAH DRAN, wenn das Publikum fürchten muss, dass ihnen die Würstchen/Donut-Reste um die Ohren fliegen und sie von Spritzern der Kaffee-Pfützen getroffen werden. Wenn die drei
zu Swing-Musik (im gedämpften Licht) mit Füßen und Armen in die Tassen tauchen – die Reißverschlüsse der Overalls ein Stück weit geöffnet – und sich der Kaffee auf den Tanzboden ergießt, scheint
ein Balance-Akt vor sich zu gehen zwischen Erfüllung und Verweigerung des Systems: Die Inanspruchnahme des (weiblichen) Körpers (in der Arbeitswelt).
Der Geruch des Speise-Gemischs liegt noch in der Luft, wenn die drei schlussendlich zu Minimal-Beat tanzen. Zwischen Groove und Delirium bilden sie einen zittrigen Haufen, der einer Tänzerin den
Overall vom Leib zieht.
Ich bin geneigt, das einfach so stehen zu lassen:
‚Auf ins Burnout – hoch die Tassen!‘
Aber ich füge noch hinzu: Mir scheint, Jara Serrano, Lola Agostini und Luciana Cousinet haben einen beherzten und persönlichen Zugang zum Thema „Arbeitswelt“ verfolgt – jedenfalls wollen die
einzelnen Szenen wirklich etwas erzählen, leider ohne dabei viel Uneindeutigkeit zu riskieren. Ich würde für weniger leicht zu entziffernde Bilder und dafür stärkeren Fokus auf die
Bewegungsrecherche plädieren. In jedem Fall hat die Arbeit eine bunte Gemengelage von Spuren hinterlassen.
„foreign body_solo“
Das dritte Stück: „foreign body_solo“ schlägt unwillkürlich einen Bogen zum Beginn des Abends, denn auch hier ist die Bodenarbeit zentral. Howool Beak, gleichzeitig Tänzerin und Choreografin
ihres Solos, schafft eine scheinbar unbegrenzte Vielfalt an tänzerischen Metamorphosen entlang des Bodens, die von sphärischen Klangcollagen (Matthias Erian) begleitet werden.
Ihr Körper vollführt dabei kunstvolle geometrische Linienführungen – hier scheint der Zwischenraum von Körper und Boden, zwischen Horizontale und Vertikale, sich aufzufüllen und fast plastisch zu
werden.
So liegt die Tänzerin im halben Liegestütz auf dem Boden, ihre Handflächen abwechselnd nach innen und nach außen gedreht: mit den Handgelenken aufstampfend vermisst sie den Umraum und erzeugt
dadurch einen Rhythmus, der keiner Regelmäßigkeit folgt - Oder sollte ich mit Blick auf das Thema der Arbeit sagen: foreign / fremd bleibt?
Im Programmheft ist die Rede vom „fremden“, vom de-platzierten Körper, der hier im Mittelpunkt des Interesses stand. Dies ist eine Setzung, die mir jedoch schwerfällt, anzunehmen oder ein wie
auch immer sich äußerndes Fremdes wahrzunehmen. Bezeichnenderweise musste ich nach den ersten Minuten noch einmal den Abendzettel zur Hand nehmen und mich vergewissern, ob ich nicht
versehentlich die Texte vertauscht hatte und doch im Stück über die „Amöbe“ gelandet war.
Auch muss ich eher an das Bewegungsrepertoire von Insekten denken (wohl doch noch bei Darwin hängen geblieben) wenn die Tänzerin auf dem Rücken liegend ihre Arme ausbreitet und die Finger wie
Fühler nach oben streckt – wie kleinste Krabbeltiere gleiten sie dann flink über ihren Kopf und ihr Gesicht. Zu wechselndem Licht und Sound findet Howool Baek immer neue, ausgefallenere Posen der
Verknotungen und Bodenfiguren. Sie tut dies mit viel Präzision – saubere Linienführung.
Gleichzeitig bleibt unklar, wohin diese Verwandlungen führen; scheint es, als wäre kaum ein Gedanke an (irgendeine) Dramaturgie verloren worden. In diesem Punkt sehe ich noch am ehesten den
Moment des Fremden oder Widerspenstigen. Die Deplatzierung findet weniger durch die Art der Bewegung, eher durch die Kontingenz ihrer Abfolge statt.
Um noch einmal an das erste Stücks des Abends anzuschließen: die Frage nach dem „Warum“ der Betrachtung stellt sich mir auch hier nicht. Die Qualität der Bewegungen spricht für sich. Wenn ich das
Fremde unbedingt benennen möchte, dann insofern, als dass sich die Choreografie einem ‚sinnvollen‘ Verlauf verweigert und sich so meinem Zugriff auf geschickte Weise immer wieder
entzieht.
So blicke ich zum Auftakt dieser Spielzeit und meiner Studioschreiberinnen-Zeit auf einen Abend zurück, der mich im guten Sinne herausgefordert hat. (So viel Bodenarbeit und Speisematsch auf
einmal!)
Alle drei Arbeiten geben einen Einblick in das Schaffen der jungen Choreografinnen, der Interesse an deren weiteren Arbeiten geweckt hat. Ich freu mich auf die nächste Ausgabe NAH DRAN 59 im
Oktober!