Text zu NAH DRAN 54 (28./29. November 2015) von Johanna Withelm
NAH DRAN 54 bestand an diesem sehr kalten ersten Adventswochenende aus drei ziemlich unterschiedlichen Solo-Arbeiten. Die beiden Frauensoli von Ana Jelušić und Marcela Reichelt waren
beispielsweise von einer zurückgenommenen und gemäßigten Grundstimmung geprägt, während das Männersolo von Stuart Meyers eher ausufernd verlief. In der Herangehensweise unterscheiden sich die
ersten beiden Stücke jedoch auch deutlich: Während Ana Jelušić mit einem konzeptionellen Stück, bestehend aus Objekten und mit radikalem Verzicht auf Körperbewegung, den Abend eröffnet, ist
Marcela Reichelts Ansatz ein sehr physischer, eher eine klassische Bewegungsstudie. Aber nun eins nach dem Anderen:
Das Solo „The Room Series: Names” von der kroatischen Choreographin Ana Jelušić ist die erste Arbeit einer geplanten Serie, die sich laut Programmheft mit Raum und Zimmer befasst.
Der Bühnenraum im ada Studio ist grell ausgeleuchtet und eine Reihe von Gegenständen liegt/steht in einer Reihe am hinteren Bühnenrand: ein Wecker, eine Lampe, ein Stuhl, ein Tisch, eine Pflanze.
Ana Jelušić betritt den Raum und stellt sich in die Reihe der Objekte. Akkurat zeigt sie nacheinander auf jedes Objekt und spricht Zahlen aus, die wohl die Maße des jeweiligen Objektes bestimmen.
Sie tut dies präzise und gewissenhaft und wiederholt die Prozedur mehrmals. Dann folgen Namensgebungen: jedes Objekt bekommt Namen, vielleicht ist es der Herstellername, oder ein ausgedachter
Name. Nach den Namenwörtern folgen die herkömmlichen Gegenstandsnamen: Jelušić zeigt auf den Stuhl und sagt Stuhl, zeigt auf die Pflanze und sagt Pflanze. Hin und wieder zeigt sie auch auf sich
und sagt „Ana“. Das akkurate Zeigen des Arms auf das jeweilige Objekt und das Aussprechen einer Benennung wird das ganze Solo über fortgesetzt. Irgendwann beginnt sie, die Objekte im Raum zu
verschieben, nach jedem Verschieben erfolgt eine neue Runde des Zeigens und Aussprechens von Namen, Benennungen, Zuschreibungen. Schließlich benennt Jelušić die Objekte mit „falschen“ Namen, die
Pflanze wird zur Lampe, der Stuhl wird zum Wecker, und so weiter.
Durch das mehrmalige Verschieben der Objekte sowie der Performerin im Raum entsteht hier eine Choreographie des puren Anordnens und Benennens: Beziehungen, Verbindungen und
Bedeutungskonstellationen zwischen den Objekten tauchen auf und verschwinden wieder. Wieder und wieder werden mit der einzelnen Verschiebung und Benennung eines spezifischen Objekts und einer
daraus entstehenden neuen Konstellation neue Bedeutungen produziert und es findet eine fast zwanghafte Praxis des Benennens und des Zuschreibens statt: Ana Jelušić beschäftigt sich hier im ersten
Teil ihrer Serie zu Zimmer und Raum mit einer speziellen Einsamkeit, „die aus dem fast absurden Versuch entsteht, ein Ding oder sich selbst erkennen zu können, indem man seinen Namen kennt.“
Diese Einsamkeit ist förmlich spürbar, sie durchzieht den Raum, wird durch das grelle kahle Licht und den Verzicht auf jeglichen Sound oder ähnliches noch gefördert. Und gleichzeitig verschwinden
durch diese Reduktion auch die Grenzen zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem, zwischen dem Wort Stuhl und dem greifbaren Holzobjekt, zu dem Stuhl gesagt wird. Die Zuschauenden
befinden sich inmitten eines spielerischen Zeichentheaters, in einem Sammelsurium von Symbolzeichen, und das zwanghafte Aussprechen der Bezeichnungen ist für mich in diesem Moment ein
Zeugnis von Einsamkeit, aber vielleicht auch von einer Art labelversessenen Kultur, in der der Glaube herrscht, man könne die Dinge erfassen, indem man sie benennt. Eine radikale Arbeit, auf
deren Fortsetzung man definitiv gespannt sein darf.
Weiter ging es mit dem Solo „Verlagern – what is left” von der brasilianischen Tänzerchoreographin Marcela Reichelt. Auch dieses Solo ist Teil einer Serie der Performance-Reihe
„Verlagern”. In diesem Teil der Reihe soll es um die Erforschung von Spannung, Abnutzung und Akkumulation gehen. Durch einen Prozess der Erschöpfung soll ein Vorgang des Offenlegens von
Widerständen, Rückständen und Resten stattfinden.
Marcela Reichelt steht anfangs im Raum und beginnt ihre Arme zu bewegen, zunächst minimal, dann um den Körper herumschlingend, die Gelenke in verschiedene Richtungen rollend. Sie zieht die Arme
hoch in die Luft und schiebt sie am Kopf entlang, reibt ihre Arme an den Ohren, so dass das Gesicht an den Seiten durchgerieben und verzerrt wird. Sie begibt sich auf den Boden und schleift den
Körper in verschiedene Richtungen, die Extremitäten sind teilweise merkwürdig um den Rumpf herumgeschlungen, es entstehen dabei schöne verkrumpelte Körperbilder.
Marcela Reichelt kommt irgendwann wieder zum Stehen und es erklingt etwas, das sich wie rauschendes An- und wieder Wegspülen von Meereswellen anhört, ein leiser Verweis auf die im Abendzettel
angedeuteten Begriffe Ab-, An- und Verlagern. Zum Klang der Meereswellen läuft sie in merkwürdig entrückter Gangart zuerst auf den Fußballen, dann mit gebeugten Knien durch den Raum, immer
tiefer, bis sie umständlich mit den Armen hinter den Kopf geknotet wieder den Boden erreicht. Sie gleitet mit wischenden Bewegungen am Boden umher, in immer schnellerem Tempo, steht wieder auf
und beginnt den rechten Arm zuerst ruhig und merkwürdig isoliert vom Rest des Körpers durch die Luft zu schwingen. Das Schwingen wird zu einem ruckartigen Schlenkern, das immer energischer wird,
der Arm scheint unabhängig vom Rest des Körpers zu sein. Der linke Arm kommt mit dazu und beide Arme schlenkern herum, schneiden durch die Luft, werden heftig geschüttelt, bis Marcela Reichelt
schließlich innehält und die Arme nach unten fallen. Die Hände sind ganz rot geworden, weil das Blut hineingeschossen ist: ein schönes Überbleibsel, als Spur der Bewegung noch im Raum zu sehen.
Das zunächst recht abstrakte Begriffsgebilde von Verlagerung – Überreste – Erschöpfung – Abnutzung erfährt hier eine leise und feine Transformation in körperliche Bewegung.
Das letzte Solo ist im Gegensatz zu den ersten beiden Arbeiten eher ausladend, laut und emphatisch. Der amerikanische Tänzer Stuart Meyers, der in Boston Theaterkunst und Tanz studiert hat
und zur Zeit in Berlin lebt, präsentiert sein Solo „Witch Dance”. In Anlehnung an Mary Wigmans berühmtes Solo „Hexentanz“ von 1914/1926 zieht Meyers laut Programmheft eine Parallele
zwischen der „ekstatischen Rückkehr zur Natur“ von Mary Wigman und seiner persönlichen Rückkehr zu einer Art Natur, die er 2014 im Berghain fand. Dort erfuhr er, dass „Ekstase in Pillen kommt“
und „Hedonismus zu Hypnose“ wird. Im Techno stolpere er in eine Art Trance und würde dort die Wahrheit finden. Dieser etwas gewagte Vergleich und die etwas naiv daherkommende, aber zugleich
lustige Stellungnahme im Programmtext macht mich schon mal sehr neugierig. Meyers, von dem nur die Silhouette sichtbar ist, beginnt auf dem Boden zu tanzen. Seine Bewegungen sind zunächst voll
von gelungenen Zitaten aus Wigmans Hexentanz: Die hexenartig krallenden Hände, die hochgezogenen Schultern, das animalisch-impulsive, in den Boden krachende Fortbewegen, das Meyers neu und
bruchstückhaft variiert und dabei sich zu eigen gemacht. Dann aber steht er auf und tanzt den Rest des Solos zu sehr lauten Techno-Bässen, begleitet von übrigens großartigen Projektionen von
Catalina Fernandez. Die Musik geht direkt in meinen Brustraum, und zusammen mit den großen graphischen Projektionen bin ich schon voll mit heftigen visuellen und akustischen Eindrücken, die ich
genießen kann, mit denen mein Zuschauerkörper randvoll gefüllt ist, so dass ich den Tanz fast als störend empfinde. Gegen diese Wuchtigkeit der Musik und Visuals kommt vielleicht kein
Tänzerkörper an, denke ich. Und das, obwohl Meyers' Tanz laut und extrovertiert ist: der Beat schießt förmlich sichtbar durch seinen pulsierenden Körper, schnelle, stets variierende Schritte,
ausholende Bewegungen mit dem Oberkörper und Armen, dazu schwarze Kleidung und ein weiß geschminktes Gesicht mit schwarz gemalten Augenringen. Die vermeintliche Ekstase war hier nicht zu
übersehen: Zwischendurch ein hohes Schreien und auf den Boden spucken, Meyers rastet förmlich aus.
Das Dreigefüge Wigman – Ekstase – Techno und dessen Verbindungen finde ich persönlich spannend, es wirkt aber in der Arbeit auf Grund einiger Hinker irgendwie nicht ganz stimmig: Techno und
Clubkultur in der Kunst zu verarbeiten, ist ja nicht gerade neu, wobei ich nicht behaupten will, dass das heute keine Relevanz mehr hat. Aber gerade das hier angeführte Berghain, früher
avantgardistischer Schmelztiegel, heute vor allem lebendiger Mythos und Touristenmagnet, unterstreicht so ein gewisses Gefühl von Abgenutztheit. Was mich aber am meisten irritierte, war das
offenkundig Darstellerische in der Bewegung. Wo doch die in Technoclubs meist vorzufindende Bewegungspraxis sich jeglicher Form der Repräsentation entzieht, im Gegensatz zu anderen
Bewegungspraktiken im Punk, RnB, Hip Hop und so weiter. Eine Praxis, die zwar eine kollektive, aber dabei trockene, kontaktarme und asexuelle Form des Tanzens ist, bei der oft das monotone
Stampfen der Füße den einzigen Impulsgeber der Bewegung bildet. Meyers jedoch geht mit seinem Tanz bewusst nach außen, es ist ein Tanz der Leidenschaft und des Aus-Rastens. Dieses nach außen
gerichtete Darstellen verträgt sich meiner Meinung nach auch weniger gut mit dem Begriff der Ekstase selbst, mit der Ekstase als erlebten Ich-Verlust oder des Aus-sich-Heraustretens,
klassischerweise hervorgerufen durch eine nach innen gekehrte monotone Bewegung, wie beispielsweise das permanente Drehen um sich selbst. Trotz allem hat Stuart Meyers eine starke körperliche
Präsenz, und die Verbindung zwischen Wigmans „Hexentanz“ und Meyers ausuferndem animalischen Tanz, der wohl als Sinnbild für Exzess gelten kann, ist durchaus interessant.