Text zu NAH DRAN 57 (2./3. Juli 2016) von Johanna Withelm
Und nun wirklich: zum letzten Mal begleite ich heute als Studioschreiberin eine Vorstellung im ada Studio – meine Zeit als Studioschreiberin endet, wie sie begann, mit einer Ausgabe des
meistgespielten ada-Formats NAH DRAN. Ich kann mich noch gut an den Anfang erinnern: Nachdem ich mich zu Beginn mit zwei NAH DRAN-Ausgaben im Spätsommer letzten Jahres quasi erstmal warm
schreiben konnte, erwartete mich im Oktober mit dem Text über die Arbeiten der diesjährigen Tanzstipendiaten schon die erste Herausforderung. Hier spürte ich ein paar grundsätzliche Einwände,
weniger zu den Stücken selbst, als zu einer bestimmten Attitüde der Performenden oder der Zusammensetzung des Publikums als Symptom für einen Zustand der Berliner Tanzszene – dies zu Papier zu
bringen bereitete mir wahrscheinlich auch die ersten grauen Haare. In der zweiten Spielzeithälfte kam es dann mit NAH DRAN 55 zu einer Situation, die mich vor die Frage stellte, wie man denn
bitteschön über die Arbeit des eigenen Partners und der eigenen Kollegin/Freundin zu schreiben habe. Die Antwort: man denkt nicht darüber nach und tut es einfach. Und im Mai bildete außerdem die
diesjährige Ausgabe von S.o.S. – Students on Stage mit ihrer klar politischen Ausrichtung einen weiteren Höhepunkt, über den zu schreiben ein Vergnügen war. Auch ein Favorit war das Schreiben
über beide 10 times 6-Ausgaben, die ja immer etwas viel, schnell und für die eigene Wahrnehmung irgendwie überbordend, aber damit auch besonders aktivierend sind – wenn der (Zuschauer-)Körper so
vollgestopft ist mit Eindrücken, Assoziationen, körperlichen und emotionalen Affekten, diversen Zuständen.
Das Schwierige zu Beginn des Studioschreiberseins war jedoch vor allem, einen angemessenen Ton, eine Haltung zu den künstlerischen Arbeiten zu finden. Wie kann ich mit dem Schreiben sowohl dem
Gegenstand gerecht werden als auch „bei mir“ bleiben? Wie kann ich persönlich schreiben und gleichzeitig die viel diskutierte Beziehung zwischen Zuschauer*in und Darsteller*in mit reflektieren?
Und wie soll das Geschriebene über das Gesehene eigentlich in irgendeiner Weise Gültigkeit besitzen? Im Verlauf der Zeit wurde immer klarer, auch weil es nun mal keine objektive Betrachtung geben
kann, dass das Geschriebene vor allem etwas über die persönliche Geschichte, die vorgeprägten Ideen, den Wissensvorrat und Erfahrungshorizont der Schreiberin verrät, wahrscheinlich sogar mehr als
über das Stück selbst. Trotzdem war es mir wichtig, so wenig zu „interpretieren“ wie es nur geht. Ich glaube, dass eine Übersetzungsarbeit von A (Tanz) nach B (Text) weder dem Text, noch den
Künstler*innen irgendwie dienlich ist. Daher bin ich immer dafür, erst mal das Gesehene zu beschreiben, ohne damit direkt im Diskurs zu landen. Denn natürlich impliziert die Beschreibung der
persönlichen Erinnerung meist ohnehin schon Spuren der Wertung, Beurteilung, Kontextualisierung – warum dann noch eine nachträgliche Interpretation, eine Art „Zurechtrücken“ der künstlerischen
Arbeit? Insofern sind die Texte keine Wiedergabe/Übersetzung/Versprachlichung der künstlerischen Arbeit, sondern eher ein Produkt für sich. Die Erinnerung lässt sich mit dem Text ohnehin nicht
komplett einfangen, vielmehr sind es Erinnerungsfragmente des Gesehenen, die in einem Zusammenspiel mit schon vorhandenen Erfahrungen/Wissen zu etwas Neuem führen. Und das mit der Wertung ist so
eine Sache. Sie lässt sich, wie gesagt, nicht vermeiden und ist in diesem Rahmen der Studioschreiberin auch gefordert. Ich glaube jedoch, dass die Offenlegung und Thematisierung der affektiven
Zustände im Körper der Zuschauerin genau diesen Hergang der Wertung transparent machen können.
Was ich dann auch im Laufe des Studioschreiberseins feststellte, war, dass zwar die Sicherheit im Ton wuchs, sich gleichzeitig aber auch langsam Redundanzen beim Schreiben einschlichen. Was
wahrscheinlich auch den immer wiederkehrenden Formaten geschuldet ist. Daher macht es auch definitiv Sinn, die Studioschreiberposition jedes Jahr neu zu besetzen, um einen frischen Blick zu
gewährleisten. Auf jeden Fall war dieses Jahr eine extrem lehrreiche Zeit, in der ich noch mal viel gelernt habe über Wahrnehmung von Tanz, über die stattfindenden Prozesse im Körper der
Zuschauenden und überhaupt über das Zuschauerdasein, und in der ich schlicht und einfach viel Spaß am Schreiben hatte.
Die NAH DRAN- Ausgabe 57 wird heute von der in Freiburg ausgebildeten und in der Berliner Szene schon länger präsenten Tänzerchoreographin Jenny Haack und ihrem Solo I moons
eröffnet, dessen Anliegen es ist, innere Landschaften aus Sprachfragmenten und Stimmtönen mit der Bewegungsarchitektur des Körpers zu verbinden. Das Ganze ist recht reduziert, der einzig zu
vernehmende Sound ihre Stimme, dazu kahles Licht. Jenny Haack beginnt mit dem Rücken zum Publikum, bekleidet mit einer weiten graue Hose, den Oberkörper entblößt. Uneindeutige abgehackte Töne
sind von ihr zu vernehmen, die nach und nach komplexer und heftiger werden, und sich in einen Dialog mit den Rückenbewegungen begeben: Muskeln, Sehnen und Knochen bewegen sich sichtbar unter der
Rückenhaut, als hätte dieser Rücken ein Eigenleben und würde zu uns sprechen, dazu die Töne, unverständlich, die mich vom Klang an eine nordische Sprache wie etwa finnisch oder isländisch
erinnern. Als Jenny Haack sich umdreht, kommt ihr angeklebter Bart zum Vorschein, ein langer rötlicher Rauschebart, der sofort etwas von Troll, Waldgeist oder Zwerg in den Raum bringt, und in
Kombination mit dem nackten Oberkörper erst mal Verwirrung herstellt. Die Körperbewegungen, die nun folgen, sind kühl, reduziert, klar abgezirkelt und münden dann in frontal zum Publikum
präsentierte Ballett-Übungen: Plié, Tendu, Port des Bras. Mit Rauschebart.
Jenny Haack lässt das mit den Ballett-Übungen und windet sich durch den Raum, dazu immer wieder ihre Stimmtöne, verzerrte und gepresste Laute kommen aus ihrem Mund. Das Zuschauen ist hier
streckenweise durchaus eine etwas sperrige Angelegenheit. Zugleich ist diese Arbeit jedoch durchzogen von feinen Fäden der subtilen Komik und vor allem geprägt von einer Konzentration, Ruhe und
Intimität, die hier von Jenny Haack erzeugt wird und sich spürbar auf die Zuschauenden überträgt. Schließlich sinkt sie langsam zu Boden, die Töne werden etwas weniger, und sie zieht den
Oberkörper unter Anstrengung noch ein paar Mal in die Luft, als ob sie doch noch etwas sagen wolle. Die gepressten Töne aus ihrem Mund bilden das erste Mal etwas, das ich entschlüsseln kann,
jedenfalls Brocken von etwas das klingt wie: I wanted to become a ballet dancer, und kurz darauf begleitet von einem zweiten Hochziehen des Oberkörpers aus dem Liegen so etwas wie And
then Modern Dance... Dieser direkte Verweis auf so ganz irdische Probleme, gar autobiographischer Natur, hat mich hier fast überrascht, und lässt den bärtigen nordischen Waldgeist
nochmal in einem anderen Licht erscheinen.
Weiter geht es mit dem Duett Banana peels are carefully placed von Julek Kreutzer & Jofe D'mahl, beide vom HZT (sie absolvierte im letzten Jahr das BA-Programm, er studiert noch
dort). Beide betreten den Raum, ziehen sich komplett bis auf die schwarze Unterhose aus und verteilen ihre Kleidung quer auf dem Boden, sie trägt noch einen schwarzen, er einen weißen
Knieschoner. Die Beiden begeben sich dann selbst auf den Boden und verschlingen ihre Extremitäten miteinander, bilden einen Körper-Klumpen. Geformt zu diesem Klumpen, mit stellenweise
herausragenden Armen und Beinen rollen sie langsam und ausdauernd durch den Raum. Teilweise ist dabei nicht zu erkennen, welcher Arm und welches Bein zu wem gehört, vor allem jedoch besticht
dieser rollende Klumpen durch seine Langsamkeit und Weichheit in der Bewegung. Kein kantiges Holpern oder schnelles Hinübereilen, sondern eine sich stets im Fluss befindende weiche, aber schwere
Qualität ist es, als würden die beiden Körper sich durch etwas Dickflüssiges wie Honig bewegen. Mit neutraler Attitüde beenden sie den Klumpen irgendwann und stehen auf, ziehen sich an, es
beginnt ein zweiter Teil. Jazz-Musik erklingt, und beide fangen an, miteinander Swing zu tanzen. Sehr privat, ohne jeglichen Repräsentationsmodus tanzen sie diesen Paar-Tanz miteinander, sie
haben das sichtlich geübt, aber ein paar Patzer schleichen sich mehrmals ein, ist auch egal, es scheint nicht darum zu gehen, beide müssen ein paar Mal lachen währenddessen. Dann ist es vorbei
und was bleibt, ist ein Gefühl der Uneindeutigkeit. Ästhetisch bewegt sich das Stück auf einem sicheren Terrain, und das Auftreten der Beiden ist, wie bei vielen HZT-Absolventen, geprägt durch
eine sichere und unaufgeregte „Ich weiß, was ich tue“- Haltung, die ich begrüße. Und doch entzieht sich da ständig was, Sachen werden behauptet, und dann so stehen gelassen, sind nicht
transparent – es gibt zwar einen Moment der Identifikation, aber der ist wackelig und bröselt. Da passiert etwas, das mich interessiert, und da steckt auch was dahinter, aber irgendetwas passt da
noch nicht. Wie bei vielen Arbeiten, die ihren Schwerpunkt im Konzept und/oder im Prozess und weniger im Moment der Präsentation haben, bleibt so eine Uneindeutigkeit zurück, die in meinen Augen
auch wünschenswert ist. Die Frage ist nur, wie man trotzdem etwas schafft, das in irgendeiner Art und Weise auch im Körper des Zuschauenden so etwas wie Gültigkeit besitzt. Eine Frage, die man
bei Gelegenheit weiterverfolgen könnte.
Den Abschluss bildet das Solo Feeling Galaxies Part II von der amerikanischen Tänzerchoreographin Rachel Seiger, die seit 2014 in Berlin lebt. Ihr Solo ist eine Lecture-Performance
mit klar autobiographischer Handschrift und beschäftigt sich vor allem mit Seigers persönlichem Migrationsmuster. So erzählt sie uns zu Beginn ein paar Anekdoten ihrer Kindheit und dann über die
Zeit, in der sie Theater mit Schwerpunkt Tanz in Ohio studierte, sowie über ihr Tanz-Studium in Jerusalem. Orte ihrer Biographie werden mit Orten im Bühnenraum und durch Stühle, Lichtwechsel und
der unterschiedlichen Verwendung eines Tuchs markiert, das mal Halstuch, mal Turban oder Kopftuch wird. Ihre Erzählungen werden dann und wann begleitet von tänzerischem Bewegungsmaterial, so
begibt sie sich in Körperbewegungen, die der Gaga-Technik entspringen, während sie über ihre Zeit in Israel spricht. Seiger erzählt ihre persönliche Geschichte auf eine recht ausdrückliche und
„theatrale“ Weise, im Gegensatz zu Kreutzer und D'mahl ist sie hier ganz und gar im Präsentationsmodus: Theater-Theater. Seiger berichtet uns eindringlich von stark emotionalen Erlebnissen, zum
Beispiel, wie sie als jüdische Amerikanerin, die in Jerusalem studiert, einen Ausflug in ein palästinensisches Gebiet wagt und zum ersten Mal ahnt, wie es ist, mit Angst zu leben und wie es sich
anfühlen kann, „die Andere“ zu sein, oder wie sie ein paar Jahre später in Berlin bei einem Transport von Geflüchteten in eine andere Unterkunft hilft, und von den hoffnungsvollen Augen der
Flüchtlingskindern spricht – ich muss zugeben, dass ich mich während dieser Szenen etwas unwohl fühle, die Art der Präsentation geht mir doch etwas zu sehr auf die Tränendrüse und irgendwie in
Richtung eines amerikanischen Melodrams (hier fühle ich mich plötzlich sehr europäisch). Und doch gewinnt die sympathische Rachel Seiger die Herzen der Zuschauenden mit ihrer Offenheit und ihrem
Humor, etwa mit ihrer Feststellung der mangelnden Flirtbereitschaft der Deutschen (Germany, why don't you flirt with me?), und besticht nicht zuletzt mit ihrem eigens komponierten Lied mit
deutschem Text, wobei das Publikum nach Aufforderung auch bereitwillig mitsingt: Ich möchte Schuhe haben, ich möchte Kühe haben, weißt Duuu?!