Text zu NAH DRAN 45 (23./24. August 2014) von Thomas Schaupp
Der Abend begann mit ein paar Atemzügen. Sie erklangen aus den
Lautsprechern, als wir Zuschauer das noch hell erleuchtete ada-Studio betraten. Im Zentrum kauerten bereits die beiden Performerinnen Adrianna Rodeghiero und Maria Giulia Serantoni mit
verschränkten Schneidersitzen aneinander. Der unaufgeregte, gleichmäßige Rhythmus der Atmung legte sich wie ein Teppich zwischen die Klänge der Ankommenden, ihrer Gespräche und der hektischen
Bewegungen ihrer Platzsuche. Zart durchdrang er das Einlassgeschehen, als wolle er seinen Rhythmus auf die Anwesenden übertragen und vielleicht gar auf sich einstimmen. Aber die wenigsten ließen
sich wirklich davon beeindrucken. Bald darauf ging das Licht aus und mit ihm verschwanden die Atmung und die Gespräche. Doch dann eine Unterbrechung: Zumindest das Mischpult war scheinbar etwas
eingelullt und brauchte wenige Minuten, bis es seine Dienste tat und die Premiere der Arbeit TIE-UP der beiden Italienerinnen beginnen konnte. Der Ausgangspunkt ihrer Recherche sei der
Boléro von Maurice Ravel, „ein einsätziger Tanz, sehr langsam und ständig gleich bleibend, was die Melodie, die Harmonik und den Rhythmus betrifft“ und „nichts als ein langes, progressives
Crescendo“, wie Ravel selbst schrieb. Liest man die Atmungsgeräusche als erste musikalische Bewegung, hätte sich Ravel auf Grund der Unterbrechung wohl im Grabe umgedreht. Die beiden
Performerinnen ertrugen es still.
Nach diesem ersten Innehalten ging es los beziehungsweise weiter. Begleitet von elektronischer Musik des Komponisten Samuel Moncharmont begannen die Tänzerinnen sich synchron hin- und her zu
wiegen. Erst bewegte sich der Kopf, dann zunehmend der ganze Oberkörper, schließlich die Arme und so weiter. Langsam erhoben sie sich und übertrugen die einer gleichmäßigen Rhythmik unterworfenen
Bewegung auf den ganzen Körper, schälten sich so von ihrem Platz und drifteten schließlich erst mit- und dann auch voneinander lösend in den Raum hinein. Dabei wurden die Bewegungen
eigenständiger, ohne jedoch aus dem gemeinsamen Rhythmus zu fallen. Progressiv wie das Zusammenspiel der Instrumente in Ravels Orchester, steigerten sich die fein aufeinander abgestimmten
Bewegungen und öffneten den Raum. Über die konzentrierten Augen blieben sie mit sich und einander verbunden und zogen gleichzeitig unsere Blicke auf ihr zunehmend expandierendes „Miteinander“,
die Kreatur aus zwei Körpern, wie es die beiden Tänzerinnen selbst bezeichnen. Gen Ende kamen sie wieder zusammen, und stellten sich nebeneinander. Während die Musik ihr Crescendo in einem
atmosphärischen Klangnebel fand, kehrten uns die beiden Tänzerinnen den Rücken zu und gingen bedacht von dannen, langsam in der zunehmenden Dunkelheit des Studios verschwindend. Kein Untergang am
Ende wie in Ravels Boléro, sondern vielmehr der Beginn einer Reise, die durchaus Neugier weckte. TIE-UP ist eine interessante Arbeit, in der es Adriana Rodeghiero und Maria Giulia
Serantoni gelang, durch ihre präzisen aufeinander abgestimmten Bewegungen und zunehmender Raumöffnung eine Spannungskurve aufzubauen, die einen bis zuletzt gespannt teilhaben ließ an der
Untersuchung eines „Mit- und Voneinander“.
Eine eher verwirrende Stimmung durchzog die zweite Arbeit dieses Abends, die Performance the time before the last der beiden special guests Mira Hirtz und Netta Weiser. In dieser
Arbeit wollten uns die beiden durch eine Tour „in und durch den gegenwärtigen Moment“ führen, eine Gegenwart durchzogen von zahlreichen Erinnerungsfetzen. Vor uns verteilten die beiden schnell
unterschiedliche Gegenstände im Raum - Bunte Papiere und Kleidung, Kuscheltiere, Flummis und.... ach, vergessen. Anhand dieser Objekte und entlang ihrer Stimmen und Körper zogen schließlich
zusammenhangslose Erinnerungsfetzen an uns vorüber, etwa eine S-Bahn-Fahrt im Berliner Ring, eine Tour durch Erlebnisse der Kindheit sowie die Bastelstuben der Grundschulzeit... Es wurde
gekichert, geschrien, fabuliert und gewimmert. Irritiert war ich von Anfang an durch die Kostümwahl. Durch ihre Kleidung wirkten die beiden eher kindlich, was sich eigenartig mit den tänzerische
Einlagen und Blicken von Netta Weiser, mal lasziv, dann wieder komisch passioniert (so zum Beispiel in ihrem „Tanz vom toten Chinchilla“), biss. Mira Hirtz wiederholte gleich mehrmals einen
kleinen Rundgang durch das Dorf ihrer/einer Kindheit, wobei sie ihren Körper als Stadtkarte nutzte und an ihm mit ihren tiefgreifenden Fingern entlang strich und grub. Stets schien sie einen Teil
der Geschichte dieser Orte zu verschweigen und wirkte von mal zu mal verängstigter. Was mag wohl an diesem Ort geschehen sein, fragte ich mich irgendwann?
An anderer Stelle sang sie im Kanon und begleitet von hebräischen Gesängen von Netta Weiser das bekannte Lied „Froh zu sein bedarf es wenig und wer froh ist, ist ein König“.... Es wurde
gekichert, geschrien, gespielt und gewimmert. Rückblickend betrachtet wirkte das alles auf mich bestenfalls tragikomisch bis verstörend. Ich muss an eine fingierte Szene denken, in der man eine
leere Kinderstube betritt und sich vor einem geistigen Auge erst schöne, dann aber zunehmend dunkle Erinnerungsfetzen auftun, während die Spieluhr weiter ihr heiteres Lied trällert – wie das so
manchmal in Krimis ist. Aber wirklich Sinn macht dies letztlich auch nicht und höchstwahrscheinlich gehe ich mit dieser Interpretation auch schon viel zu weit. Doch so ist das einmal mit dem
ganzen Wust von Erinnerungsschnipseln. Im Programmtext fordern die beiden ja auch, „Lasst uns die Ordnung durcheinander bringen und uns an das erinnern, was wir nicht erinnern können um zu
vergessen, was wir nicht vergessen können“. Das ist famos gelungen und steht für sich. Bliebe dann nur noch die Frage, was das Ganze soll...
Nach einer kurzen Pause ging der Abend mit einer Studie der Italienerin Monica Gentile weiter, Minimal dance – work in progress. Dass diese Arbeit sich seit ihren ersten
Präsentationen im letzten Jahr kaum weiterentwickelte, sei mal so dahingestellt. Jedenfalls, der Programmtext dazu verrät eigentlich auch schon recht viel vom Bühnengeschehen. Das Hören von
Techno-Musik inspirierte Gentile „zu rhythmischen Figuren, die eine spezielle Choreografie hervor bringen, gekennzeichnet durch harte Gesten, Unpersönlichkeit und emotionale Distanz“. Mehr als
die so durchaus treffend beschriebenen Bewegungen ist vom Techno auch nicht mehr übrig, abgesehen vielleicht noch vom Kostüm (weiße Hotpants, weißes durchscheinendes Oberteil und schwarze
Plateaustiefel), dass an die Glanzzeit der Love Parade erinnern lässt. Techno selbst war nicht zu hören, aber das ist auch nicht weiter schlimm und soll ja auch so sein. Nur die Atmung der
Tänzerin und das Quietschen ihrer Schuhe auf dem Boden waren die verbliebenen Klangrudimente, die in den Diskotheken gewöhnlich vom kalten Beat völlig verschluckt werden. Und das ist erst mal
spannend, denn alleine diese Geräusche könnten uns Zuschauer in ihren Takt ziehen oder gar in irgendeine Spannung versetzen. Die aneinandergereihten Bewegungssequenzen folgten allerdings leider
nicht immer einem geordnetem Beat, wie wir es von Techno gewohnt sind. Der Rhythmus der Bewegungssequenzen war mal langsamer, dann wieder schneller, ohne jedoch ein nachvollziehbares System zu
verfolgen. Deshalb war es schwer, die Schwingungen der vom „stummen“ Techno getakteten Bewegungen überhaupt wahrzunehmen. Vielleicht müsste Gentile da noch konsequenter werden, oder einfach
präziser. Mehr als diese „minimale Wirklichkeit“ (was meint das eigentlich genau?), von der sie in ihrem Exposé schreibt und nach der sie mit Minimal dance augenscheinlich sucht, blieb am
Ende wirklich auch nicht übrig oder es zog gänzlich an mir vorüber.
Das letzte Tanzstück an diesem Abend, die Uraufführung von JOHN von PROJECT 44 aus New York City, war eine gelungene Überraschung: Amerikanisches Tanztheater, wie wir es in Berlin am
ehesten noch am Staatsballett zu sehen bekommen (ich denke da an den Abend „Ratmansky/Welch“ – seit März 2014 im Repertoire). PROJECT 44 ist ein von Gierre Godley gegründetes männliches
Tänzerkollektiv, mit dem der Choreograph sich zum Ziel gesetzt hat, die „Schönheit, Vielseitigkeit und Athletik von männlichen Performern“ zu präsentieren. Das könnte nach einem Statement gegen
eine nach wie vor die amerikanische Tanzwelt dominierende konservative Vorstellung von der Rolle des männlichen Tänzers klingen. Noch bis vor zehn Jahren fühlte dieses Thema zahlreiche
Konferenzpapiere, nicht zuletzt auch die Medien, denke man nur mal an die arte-Dokumentation „Mann in Bewegung“ von Rosita Boisseau und Valerie Urrea, in dem provokativ unterstellt wurde, dass
ein tanzender Mann, in einer Gesellschaft, die zunehmend weiblich bestimmt sei, seine Männlichkeit riskiere. Naja, darüber würde ich mich jedenfalls gerne mit Gierre Godley unterhalten und sollte
mir dies gelingen, reiche ich das Interview selbstverständlich nach.
In JOHN begibt sich der Choreograph gemeinsam mit den begabten Tänzern Aaron McGloin und Collin Ranf körperbetont und nicht ohne einen Hauch von Dramatik auf die Suche nach dem Unbekannten
ihrer eigenen Identität. Dies endet natürlich fast zwangsläufig in der Selbstdarstellung, dies jedoch durchaus virtuos und ästhetisch reizvoll. Durchsetzt von intelligent aufeinander aufgebauten
Wechseln von Soli, Duos und Trios wurde lesbar, dass Identitätsstiftung immer nur im Miteinander erfolgen kann. Keine wirklich neue Erkenntnis, doch die braucht es auch gar nicht. Letztlich sah
man am Ende eines vielseitigen Abends, der einen kleinen Querschnitt durch die Facetten der Tanzkunst zog, ein in sich kohärentes und kurzweiliges klassisches Bühnenstück. Der Applaus war ganz
auf ihrer Seite.