Text zu NAH DRAN 39 im Rahmen von AUSUFERN (31. August 2013) von Anna Volkland
Die Mechanik der Gefühle, Tänzerinnen in Turnschuhen und ein theatrales Experiment mit dem Gedankenloch
Sieht man mehrere Stücke hintereinander, ist es verlockend, Zusammenhänge zu sehen oder sogar "Tendenzen" auszumachen – was natürlich statistisch überhaupt nicht seriös ist. Aber es ist wie mit
diesen Suchbildern für Kinder: Finde die Unterschiede! Oder eben die Gemeinsamkeiten, was manchmal noch viel einfacher ist. So könnte einfach aus Spaß an der Freude behauptet werden, die
AUSUFERN-Ausgabe von NAH DRAN hätte zum – ebenfalls behaupteten – Trend des "Tanzens mit Tieren" beigetragen (hier war’s ein Hund und im Uferstudio 1 ein Pferd und viel zu lesen und zu hören
gab’s zu diesem gerade in der Tanzwissenschaft beliebten Thema auch schon). Außerdem, dass es auch einen die Tiere vollkommen außen vor lassenden "ada-Binnentrend" gegeben hätte, also fast
unheimliche Parallelen zwischen den gezeigten Stücken, insbesondere Annegret Schalkes Solo fest und re:echo von und mit Raisa Kröger und Katharina Meyer. Alle drei Tänzerinnen
trugen eine Bobfrisur und schulterfreie Oberteile zu starken Armen sowie Turnschuhe bei fast totaler Sprungabstinenz, dazu gab es elektronische Musik. Hier kann spekuliert werden, dass frau im
Tanz heute die Verkörperung sportlicher (Geschlechter-)Neutralität anstrebt (ohne aber Sexualität auszuklammern, wie noch erläutert werden müsste), was sich mit Verweis auf andere zeitgenössische
ChoreographInnen und Gendertheorien auch sehr schön zu einer umfassenderen These ausbauen ließe. Ignoriert werden müsste dabei die Tatsache, dass Raisa Kröger einen kurzen Rock zu schon etwas
weniger kräftigen Oberarmen trug und dass die nach der Pause im ada-Studio folgende sehr eigene Performance Spannhaut Mangel mit Tier, Livemusiker und Statisten ohne Gesicht von Lisa
Müller-Trede und Julia Wallner in Sommerkleidern ohne Schuhe oder Kurzhaarschnitt performt wurde. Zartes Tänzeln gab’s trotz der nackten Füße aber auch nicht, stattdessen eiserne Schürhaken,
krachende Knochen und raue Poesie. Diese dritte Inszenierung des Abends soll aber sowieso erst einmal für sich stehen bleiben, Gemeinsamkeiten gibt es hier am ehesten mit der Theateravantgarde
des frühen 20.Jahrhunderts, was heißt, sie läuft gegen jeden gerade irgendwie feststellbaren Trend im zeitgenössischen Tanz Berlins.
Die Analogien zwischen den ersten beiden Stücken sind aber tatsächlich tiefgehender: Beide konzentrieren sich ganz auf die Bewegungsqualität und den Körper als Bild – es gibt keine Requisiten,
keine musikalischen Zitate, keinen Text, keine Gags und keine Artistik. Das mag karg klingen, und ist es im Fall vieler anderer zeitgenössischen Tanzstücke auch. Annegret Schalke und Raisa
Kröger/Katharina Meyer treiben die Reduktion aber nicht so weit, dass der Eindruck müder Bedeutungslosigkeit entstehen würde, ihre Stücke sind physisch anspruchsvoll, erstaunlich vielfarbig und
komplex. Eine fruchtbare Konzentration auf den Körper also, die trotz all der vordergründigen Gemeinsamkeiten doch zwei ganz verschiedene Arbeiten beschreibt: auf der einen Seite ein fast
narratives Solo, das das Zusammenwirken von Bewegung und Emotionen untersucht, auf der anderen ein Bilderreigen-Duett, das die Differenz zwischen Emotion und Pose betont.
Während Raisa Kröger und Katharina Meyer eine Art Nichtgesichtsausdruck zur Schau stellen, sich in Zeitlupe synchron oder jede für sich in verschiedene Posenzitate begeben, die Körpersprache
quasi von der Mimik bereinigen und an die glattweiße Unnahbarkeit antiker Marmorstatuen erinnern, bilden Gesicht und Körper bei Annegret Schalke eine untrennbare Funktionseinheit: Repetitive
Bewegungen der Schultergelenke beispielsweise bewirken nicht nur Drehungen der Arme, sondern möglicherweise auch Federn in den Knien, Kippen der Hüfte, leichtes Nicken des Kopfes, Rollen der
Augen und Spannung der Lippen. Was nach mechanischer Gliederpuppe mit Clownsgesicht klingt, sieht nach einem sehr bewussten Erforschen der eigenen Bewegungsmöglichkeiten, ihrer sich
angenehmerweise ("organisch") ergebenden Kombinationen und den daraus resultierenden Körperzuständen, Empfindungen, vielleicht sogar Gefühlen aus. Die immer wiederkehrende Grundposition
signalisiert dabei sportive Achtsamkeit: die beturnschuhten Füße im vollen Bodenkontakt hüftbreit auseinander, die Knie federnd gebeugt, die Hüfte beweglich, der Rumpf stabil, die Arme meist in
Bewegung, dabei beweglicher in den Schultern als in den Armgelenken selbst. Ihre Bewegungen sind gelenkbetont und repetitiv, aber jede Wiederholung bedeutet eine – mitunter minimale – Veränderung
der Haltung und des energetischen Levels. Dass Annegret Schalke sich vom dynamisch-stabilen Körperzustand bis zur formlos-labilen Erschöpfung bewegt, wäre nicht unbedingt originell. Sie schafft
es allerdings, ihren Körper und seine Bewegungen scheinbar permanent und vor allem mit offensichtlich großem inneren Engagement zu beobachten – was paradox wirkt; der traditionell als Sitz von
Intelligenz und bewusster Steuerung geltende Kopf mit Gehirn und Gesicht erscheint als gleichwertiger Partner der Körperteile unter ihm. Natürlich geht es hier um Ausnahmezustände: um das Feiern,
das Tanzen bis zur totalen Verausgabung. Am Boden angekommen, bleibt die Performerin allerdings nicht liegen – sie steht auf, bringt sich in Grundposition. Wer Turnschuhe trägt, kennt keine
Müdigkeit.
Für Raisa Kröger und Katharina Meyer spielt die Erschöpfbarkeit ihrer Körper keine Rolle, im Gegenteil: die Turnschuhe können nur als kostümtechnischer Irrtum bezeichnet werden, ihre Körper sind
Zeichen, die sich einer eindeutigen Lesbarkeit entziehen. Einerseits, weil ein Kontext fehlt, der den Bewegungen Bedeutung zuschreibt (was bei Annegret Schalke eben in aller Offenheit das Fest
ist), andererseits, weil die immer wieder in extremer Langsamkeit vorgeführten Positionen mehrdeutig sind, die Bilder sich verschieben und überlagern: Eine Umarmung wirkt wie die Bergung eines
Katastrophenopfers, die wiederum eine Pietá zitiert oder eine sexualisierte Variante derselben. Von diesen Körpern als skulpturalen Elementen geht eine Faszination aus, das Ignorieren des
Publikums und die Blicke ins Leere machen Sinn – umso mehr irritieren die Kostüme und Frisuren, die unbedacht privat wirken. Erstaunlich, dass es den beiden Tänzerinnen dennoch immer wieder
gelingt, entindividualisiert zu erscheinen: besonders eindrücklich, wenn sie ihre Bewegungen gegenseitig exakt kopieren, gleichzeitig ist ihr Bewegungsfluss durchgehend synchron: zitternd,
zuckend, ruckend, verharrend oder sich in extremer Langsamkeit selbst ausstellend. Das Sich-selbst-zum-Objekt-Machen tritt als mögliche Auseinandersetzung allerdings hinter dem sorgfältigen
Erforschen der verschieden choreographischen Mittel zurück. Es wäre vielleicht der nächste Schritt. Dann ganz ohne Kostüm oder in Uniform.
Der nächste Schritt für das mit Spannhaut Mangel erstmals vor die Öffentlichkeit getretene außergewöhnliche Mensch-Tier-Kollektiv zw4rt sollte in weiteren Aufführungen und – das wäre mein
Vorschlag – Publikumsgesprächen bestehen. Da kann dann direkt gefragt werden, wieso gerade ein Kuhfuß sich langsam durchs Gedankenloch schieben kann, ob das fehlende Gesicht des vierten Mannes
beim Hund zu suchen ist oder warum die beiden Frauen so eine Vorliebe für verrückte Rätsel ohne Auflösung haben – Kommunikationsräume auszuloten ist schließlich auch erklärtes Ziel von zw4rt. Ich
gebe zu, dass ich es an dieser Stelle vor allem kurz machen möchte: Ich mochte die Aufführung und hätte mir das Stück (aber) länger gewünscht. Neugierige kontaktieren bitte die Website mit den
poetisch-pathetischen Texten über Extreme, Demut und die Kreatur: www.zw4rt.com oder melden sich bei mir, wenn
sie doch noch mehr lesen wollen.