Text zu „reinkommen“ (7. Juli 2022) von Adèle Aïssi-Guyon, ins Deutsche übersetzt von Auro Orso

 

 

Am Donnerstag, dem 7. Juli, habe ich die offene Probe besucht, zu der Julie Carrere und Agathe Vincent nach ihrer dreiwöchigen Residenz im ada studio im Rahmen von «reinkommen» eingeladen hatten. Ihre Recherche ist die erste Phase ihres künstlerischen Projekts «Break the Charm», das im September bei Hosek Contemporary in Berlin zu sehen sein wird.

 

Beim Betreten des Studios sind die beiden Performerinnen bereits im Raum, beide auf dem Boden, in gegenüberliegenden Ecken des Raumes, und spielen mit Plastikgliedmaßen von Schaufensterpuppen, wie man sie in Kleidergeschäften findet. Im Raum sind weitere Objekte zu sehen, wie etwa ein kleiner Metallzaun oder eine durchsichtige Sonnenbrille. Das Publikum ist rundherum versammelt und verfolgt das Geschehen aus allen Richtungen. Ich fühle mich, als würde ich kleinen Kindern beim Spielen in einem Kindergarten zusehen, die so sehr auf ihre innere Welt konzentriert sind, dass sie nicht sehen können, was sie umgibt. Allerdings wäre dies eine ganz andere, dunklere oder düsterere Version dieser Szene: Die Elemente im Raum erinnern mich bei näherem Hinsehen an postapokalyptische oder Science-Fiction-Filme, in denen in Geisterstädten nur noch irgendwelche Gegenstände verstreut sind. 

 

Die beiden Performerinnen spielen mit den Plastikgliedmaßen als Material. Was ich interessant finde, ist, wie diese Verlängerung ihrer Gliedmaßen sie in ihren Bewegungen weniger menschlich macht. Sie erscheinen nicht als «Superkörper» oder «verstärkte» Körper, sondern eher als komische oder krumme Kreaturen, an der Grenze zwischen menschlich und nicht menschlich. Eine Performerin scheint damit beschäftigt zu sein, das Plastikbein als Objekt zu erforschen, wodurch es seine Bedeutung als Bein verliert: das Plastikteil wird zu einem Gewicht für Bodybuilding, einer Stütze für die Bewegung oder einem lächerlich überdimensionierten Penis, dem Horn eines Einhorns. Diese Bilder tauchen auf und verschwinden sofort wieder, als die Bewegungen weitergehen.

 

Die Performerin, die sich in meiner Nähe befindet, wirkt mit ihren repetitiven Bewegungen fast wie ein Roboter oder eine Marionette. Sie hält die beiden Plastikarme, und ich stelle fest, dass sie damit ihren Bauch eindrückt und ihren Kopf nach oben drückt. Jede*r, der/die schon einmal an einem Ballettunterricht teilgenommen hat, kennt diese gemeinsamen negativen, manchmal traumatischen Erfahrungen. Der/die Lehrer*in kommt vorbei und legt seine/ihre Hand auf den Bauch, auf den unteren Rücken, auf die Schultern. Bauch rein! Hintern rein! Kopf hoch! Schultern nach unten! Oder weiter gedacht: Jeder von der Gesellschaft feminisierte Körper kennt den Kampf mit den auferlegten Gewichts- und Schönheitsnormen. Was ich bemerkenswert finde, ist, wie diese Arme wie äußere Kräfte wirken, die sie kontrollieren, während sie gleichzeitig von ihr in Bewegung gesetzt werden. Hier wird die Verinnerlichung der gesellschaftlichen Normen gut dargestellt.

Ich beginne zu glauben, dass diese seltsame Umgebung mehr mit der realen Welt zu tun haben könnte, als ich zunächst dachte.

 

Irgendwann fangen beide an, rückwärts aufeinander zuzukriechen, doch sie werden immer wieder in ihre Ecke zurückgedrängt. Es fühlt sich an, als ob ihr Raum der Einsamkeit sie immer noch wie ein Magnet anzieht. Diese unsichtbaren Käfige scheinen sie nicht loslassen zu wollen, sie nicht entkommen zu lassen, bis sie sich schließlich treffen und eine akrobatische Pose einnehmen (die Füße des einen klettern auf die Hüften des anderen, beide Hände auf dem Boden und sie sehen einander von oben herab an).

 

Das gesamte Stück spielt mit dieser Dualität, den inneren und äußeren Kräften, die kontrollieren, und den Möglichkeiten, sich zu befreien, indem man ihnen entkommt, mit ihnen spielt und sie unterläuft. Die Aufführung entwickelt sich zu einer Abfolge verschiedener, von Musik begleiteter Szenen, in denen sich die Rollen der beiden Performerinnen zueinander und zu den Objekten ständig verschieben und umgestalten.

 

Nachdem sie sich in der Mitte der Bühne getroffen haben, beginnt ein langer Moment des Zusammenseins und der Trennung zugleich. Der Raum wird zu einem Ort der Möglichkeiten, zu einem Spielplatz, zu einem Schlachtfeld. Sie tanzen zusammen und sind doch allein, sie sind zusammen und gleichzeitig im Streit. Die Machtdynamik ändert sich. Ich habe das Gefühl, sowohl einer Kampf- als auch einer Verführungsszene beizuwohnen, sowohl einer angespannten Beziehung als auch einer engen Freundschaft, sowohl Gewalt als auch Fürsorge, abhängig von den jeweiligen Momenten. Sie scheinen sowohl gegen sich selbst, als auch gegen den anderen zu kämpfen. Ihre Verbundenheit zeigt sich schließlich am Ende dieses Kampfes, als sie sich gemeinsam umdrehen, während sie sich gegenseitig festhalten wie Kinder, die auf einem Drehkreuz spielen. Die einsamen Kinder, die ich am Anfang gesehen habe, scheinen einander und ebenso die Offenheit gefunden zu haben, das Publikum mit einzubeziehen.

 

Die nächste Szene bringt viel Humor und Subversion, während sie erneut an die Gewalt von Normen erinnert. Eine Performerin bringt die verschiedenen Objekte in die Mitte des Raumes. Dieser Haufen zufälliger und nutzloser Objekte wird zu einem Schutz, als sie sich unter ihnen hinlegt und den Zaun über sich verbiegt. Sie hängt einen kleinen elektrischen Epilierer an den Zaun. Die andere setzt die durchsichtige Sonnenbrille auf und nimmt den unteren Teil des Körpers einer Schaufensterpuppe (von den Hüften bis zu den Zehen). Sie beginnt sich zu bewegen, als mähe sie den Rasen, dabei imitiert das Geräusch des Epilierers das Geräusch ihrer Maschine. Die Beine auf diese Weise zu halten, ist eine sehr humoristische Art, den Körper zu desakralisieren und mit der Objektivierung des Körpers von tanzenden Personen zu spielen. Und natürlich, um auf eine als männlich empfundene Tätigkeit zu verweisen.

 

Schließlich gesellt sich die Tänzerin zu ihrer Mitstreiterin in der Mitte und stellt ihr eigenes Bein zur Rasur mit der Maschine zur Verfügung. Ich frage mich, ob dies ein Weg ist, um zur Realität und zu den Schönheitsnormen zurückzukehren, oder ein Weg, um eine Form von Freiheit und Handlungsfähigkeit innerhalb dieser Normen zu finden (oder beides?) 

 

 

Die letzte Szene ist voller Energie. Sie stehen auf und beginnen in der Mitte des Raumes mit einer Sportstunde. Sie beginnen mit einer langen Planke, die eine Menge Spannung in die Unbeweglichkeit bringt, dann «explodieren» sie mit sehr schnellen Bewegungen und Sprüngen. Wir sehen, wie sie sich anstrengen und wie sie die Anstrengung genießen. Eine von ihnen nimmt die beiden Arme einer Schaufensterpuppe, um ein Springseil zu imitieren. Diese Szene hat einen humoristischen Aspekt, aber sie ist auch eine gute Möglichkeit für das Publikum, sich in diesen Kampf einzufühlen, der dieses Mal rein körperlich ist und den wir alle kennen. Sie beenden die Szene mit einem lustigen «Plastik-High-Five», wobei jede einen Arm hält.

 

Ich genoss es sehr, wie alle Formen von Beziehungen zwischen den beiden Performerinnen sowie die Beziehungen zwischen ihnen und den Objekten sich im Laufe des Stücks drastisch änderten, radikal, aber mit intelligenten und gut ausgeführten Übergängen, unterstützt durch die Musik. Ihre Rollen zueinander änderten sich viele Male, und ihre Bewegungen im Verhältnis zu den Gliedmaßen waren manchmal abstrakt, manchmal sehr erkennbar, manchmal realistisch und manchmal sehr subversiv.

 

Ich hatte das Gefühl, dass das Stück ein ständiger Kampf um Freiheit war, um Wege der Subversion, wenn man sich festgefahren und kontrolliert fühlt. Die Tatsache, dass sowohl die Performerinnen als auch ihre Requisiten all diese sehr unterschiedlichen und wechselnden Rollen einnehmen konnten, war eine großartige Möglichkeit zu zeigen, dass nichts und niemand frei von Widersprüchen ist. Dass nichts «rein» ist oder auf eine Eigenschaft reduziert werden kann. Was wir lieben, kann uns auch unterdrücken. Was wir wertschätzen, kann auch von uns geschädigt werden. Die Normen, die wir bekämpfen, existieren auch in uns. Ein und derselbe Körper kann streicheln und stoßen, passiv sein und kontrollieren, egal ob seine Hand aus Plastik oder aus Fleisch ist. Weil das Stück dieses Thema mit viel Leben und Humor angeht, hat es bereits einen Charme gebrochen, und das ist auch gut so.

 

 

On Thursday, July 7, I attended the open rehearsal Julie Carrere and Agathe Vincent were presenting after their three weeks residency at ada studio in the frame of «reinkommen». This research is the first step of their artistic project «Break the charm», which will be presented in September at Hosek Contemporary in Berlin.

 

I enter the studio to find the two performers already in the space, both of them on the floor, in opposite corners of the room, busy playing with plastic limbs of mannequins like the ones you find in clothes stores. Other objects are to be seen in the space, like a small metal fence or transparent glasses. The audience is sitting all around them, witnessing them from all directions. I feel like I am watching small children playing in a Kindergarden, so focused in their inner world that they can’t see what is around them. But this would be a very different, darker or gloomier version of this scene: the elements in the space really remind me of these post-apocalyptic or sci-fi movies where only random objects remain in ghost towns.

 

The two performers play with these plastic limbs as material. What I find interesting is how this extension of their limbs is what is making them less human in their movements. They don’t appear as «superbodies» or «amplified» bodies but more as funny or crooked creatures, at the limit of human and non human. One performer seems to be busy exploring the plastic leg as an object, making it lose its meaning as a leg: the plastic part becomes a weight for bodybuilding, a support for movement, or a ridiculously oversized penis, the horn of a unicorn. The glimpses of these images appear and directly disappear again, as the movements continue.

The performer who is nearer to me almost looks like a robot or a puppet with her repetitive movements. She is holding the two plastic arms and I realize that she is pushing hear belly in, her head up with them. Anyone who has been in a ballet class shares these common negative, sometimes traumatic experiences. The teacher coming by and putting their hand on the belly, on the lower back, on the shoulders. Belly in! Ass in! Head up!

Shoulders down! Or wider: any body feminized by society knows the struggle of imposed weight and beauty norms. What I find striking, is how these arms seem to be external forces controlling her, while at the same time being put in motion by her. Here, the internalization of social norms are well represented.

I start to think that this weird environment may have more to do with the real world than I first imagined.

 

At some point, both of them start to crawl backwards, towards each other, but they are always pushed back to their corner. It feels like their space of loneliness still attracts them like magnets. These invisible cages seem to not want to let them go, to let them escape, until they finally meet, forming an acrobatic pose (one’s feet climbing on the other’s hips, both their hands on the floor and looking at each other from upside down).

 

The whole piece is playing on this duality, the inner and outer forces that control, and the ways to set free, by escaping, by playing with them and subverting them. The performance develops into a succession of diverse scenes accompanied by music where the two performers’ roles to each other and to the objects shift and rebuild constantly.

 

After they meet in the middle of the stage, a long moment of both togetherness and separation starts. The space becomes a place of potentialities, a playground, a battlefield. They are dancing together, yet alone, together yet fighting. The power dynamics change. I feel like I am witnessing both a fight and a seduction scene, both a tense relationship and a close friendship, both violence and care, depending on the moments. They seem to be struggling against themselves as much as against the other one. Their connection finally

appears at the end of this playfight, as they turn around in unison while holding each other like children playing on a turnstile. The lonely children I was seeing in the beginning seem to have found each other, and also to have found the openness to take the audience into account.

 

The next scene brings a lot of humor and subversion, while again reminding the violence of norms. One performer brings the different objects in the center of the space. This pile of random and useless objects become a protection as she lies down among them and bends the fence above her. She hangs a small electric epilator on the fence. The other one puts the transparent sunglasses and takes the lower body part of one

mannequin (from hips to toe). She starts moving like she is mowing the lawn, with the noise of the epilator imitating the noise of her machine. Holding the legs like this is a very humoristic way of desacralizing the body, of playing with the objectification of the dancer’s body too. And, of course, to refer to an activity perceived as masculine.

She finally joins her co-performer in the middle and offers her own leg to be shaved with the machine. I wonder if it is a way to bring back to reality and beauty norms or a way to find a form of freedom and agency within them (or both?)

 

The last scene is full of energy. They get up and start having a sports session in the middle of the space. They start with a long plank that brings a lot of tension in the immobility, then they «explode» with very fast movements and jumps. We see them both struggling and enjoying the effort. One of them takes the two mannequin arms to mimic a jumping rope. This scene has a humoristic aspect, but it is also a great way for the

audience to empathize with this struggle, purely physical this time, that we all know. They finish with a funny «plastic high five», each of them holding an arm.

 

I really enjoyed how all forms of relationships between the two performers and between them and the objects drastically changed throughout the piece, radically but with smart and well executed transitions, supported by the music. Their roles to each other shifted many times and their movement in relation with the limbs were sometimes abstract, sometimes very recognizable, sometimes realistic and sometimes very subversive.

It felt to me like the piece was a constant fight for freedom, for ways of subversion when feeling stuck and controlled. The fact that both the performers and their props could take all of these very different and shifting roles was a great way to show that nothing and noone is exempt of contradictions. That nothing is «pure» or can be reduced to one characteristic. What we love can also oppress us. What we cherish can also be harmed by us. The norms we fight also exist within us. The same body can caress and push, be passive and control, whether its hand is made of plastic or of flesh. Because the piece is tackling this topic with a lot of life and humor, it has already broken a charm, and it is for the best.


Das ada Studio wird seit 2008 als Produktionsort von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.


 

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